Behandlung von Mangelernährung: Heilung für Körper und Geist
4 Min.
Mehr als elf Monate nach Beginn des Notfalleinsatzes für die zentralafrikanischen Flüchtlinge im Osten Kameruns läuft die Hilfe von Médecins Sans Frontières/ Ärzte ohne Grenzen (MSF) weiter. Die Flüchtlinge sind noch immer geschwächt und viele haben mit psychischen Beschwerden zu kämpfen.
In Batouri und Garoua-BoulaÏ wird die klassische medizinische Behandlung der Mangelernährung bei Kindern heute mit psychosozialer Unterstützung ergänzt. Durch diese Versorgung auf mehreren Ebenen, bei der mangelernährte Patienten und ihre Familien auch psychologisch betreut werden, wird die Genesung der Kinder gefördert.
Interview mit der Psychologin Mira Demachkié, zuständig für die psychologische Betreuung
Warum braucht es Psychologen für die Behandlung von Mangelernährung?
Bei der Ernährung eines Kindes geht es um viel mehr als nur um die Versorgung mit Nahrungsmitteln. Wir wissen heute, dass die Psyche mangelernährter Patienten die Gesundung häufig stark beeinflussen kann, und zwar sowohl positiv als auch negativ. Entscheidend für eine gesunde Entwicklung der Kinder ist die körperliche und sensorische Stimulierung. Mangelernährte Kinder sind oft apathisch, ihre Psychomotorik wird beeinträchtigt. Wenn die Kinder nicht mehr auf die Stimulierung durch die Mutter reagieren, kann es sein, dass diese ihre Aufmerksamkeit abwendet. Können wir jedoch die Beziehung dieser Eltern mit ihrem kranken Kind stärken, dann fördern wir auch dessen Genesung.
Bei MSF setzen wir vermehrt auf eine psychologische Begleitung der Ernährungshilfe, denn dies kann in jedem Kontext hilfreich sein. Derzeit arbeiten wir vor allem im Umfeld kriegerischer Auseinandersetzungen oder Vertreibungen wie hier in Kamerun, in Dadaab in Kenia oder im Südsudan mit einer psychologischen Betreuung. Die meisten Patienten hier in unseren Ernährungshilfezentren sind Flüchtlinge aus der Zentralafrikanischen Republik. Diese Familien kommen aus Kriegsgebieten, sie wurden vertrieben. Einige haben mit ansehen müssen, wie Verwandte getötet oder gefoltert wurden. Diese traumatischen Erlebnisse haben Spuren hinterlassen, die wir nicht vernachlässigen dürfen, da sie die Genesung beeinträchtigen können. Darum bieten wir allen Patienten wie auch ihren Familienmitgliedern, die dies möchten und die unsere Unterstützung annehmen, besondere Sprechstunden an.
Was wird konkret für die Patienten getan?
Neben den Einzelsitzungen organisieren wir Eltern-Kind-Gruppen, bei denen wir die Eltern oder andere Begleitpersonen zu Ernährungsfragen informieren, erklären, wie wichtig ihre Rolle ist, und ihr Selbstwertgefühl stärken. Diese Personen sind die wichtigste Bezugsperson im Leben des jungen Patienten. Sie helfen dem Kind, sich zu entwickeln und mit der Welt um sie herum zu interagieren.
Wir ermutigen die Eltern, ihre Kinder affektiv zu stimulieren, und weisen darauf hin, wie wichtig Berührungen und Blicke sind. Gemeinsam mit den Aufklärungsteams organisieren wir Treffen, bei denen wir die Mütter auffordern, mit ihren Kindern zu spielen, zu tanzen und zu zeichnen. Am Anfang war das ein bisschen schwierig, weil diese Frauen traditionell nicht mit ihren Kindern spielen. Jede Kultur hat ihre eigene Art, Zuneigung zu äussern, und hier singen die Mütter eher, sie geben die Brust oder schaukeln die Kleinen auf ihrem Rücken.
Ist ein Kind medizinisch stabil, kann die Mama es auch massieren, denn dies ist eine sehr gute Stimulation. Vor allem zeigen wir, dass ein Kind, auch wenn es nicht spricht, auf andere Weise antworten kann, beispielsweise durch ein Lächeln.
Die Gruppentreffen sind sehr gut angelaufen. Die Mütter unterstützen einander und immer mehr Frauen wollen bei unseren Tätigkeiten mitmachen.
Wie wirkt sich diese Arbeit auf die Gesundheit der mangelernährten Kinder aus?
Die Kinder reagieren sehr sensibel auf das, was sie von ihren Eltern oder Begleitpersonen zu spüren bekommen oder eben nicht zu spüren bekommen. Ein krankes Kind, für das sich niemand interessiert, hat keine Lust, um sein Überleben zu kämpfen.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat bewiesen, dass die Stärkung der Mutter-Kind-Bindung und psychologische Unterstützung im Rahmen der Behandlung eine raschere Verbesserung des Ernährungszustands der Kinder erlauben. Zudem wird eine Mutter, die sich gut fühlt, ihrem Kind mehr Aufmerksamkeit schenken, was dieses wiederum bei der Genesung unterstützt.
Bei stationär behandelten Kindern können die Verbesserungen des Gesundheitszustands manchmal schon nach wenigen Sitzungen sichtbar sein. Aber auch bei den Müttern beobachten wir Fortschritte: Sie reagieren schneller auf die Gefühlsäusserungen und Bedürfnisse ihrer Kleinen.
Bei der herkömmlichen Behandlung der Mangelernährung hingegen, die keine psychologische Betreuung umfasst, ist die Wahrscheinlichkeit grösser, dass die Eltern das Ernährungszentrum verlassen, bevor die Behandlung abgeschlossen ist, was sich negativ auf die Heilung des Kindes auswirkt.
Die Integrierung von psychologischen Aktivitäten bei der medizinischen Behandlung und bei der Gesundheitsförderung wirkt sich demnach positiv auf die Betreuung von Patienten mit Mangelernährung aus. Wichtig ist, dass alle Massnahmen Hand in Hand gehen. Dies ist auch ein schönes Beispiel dafür, wie gut sich die Mitarbeiter der MSF-Teams untereinander ergänzen und wie wichtig auch Aktivitäten im psychologischen Bereich sind.
Laut offiziellen Zahlen sind seit Januar 2014 annähernd 130‘000 zentralafrikanische Flüchtlinge nach Kamerun geflohen. MSF unterstützt das kamerunische Gesundheitsministerium und ist im Osten des Landes tätig, wo sich die meisten Flüchtlinge aufhalten. Seit Februar 2014 umfassen die Tätigkeiten von MSF ärztliche Sprechstunden, bei Bedarf Organisieren von Überweisungen in Spitäler, Behandlung von mittelschwerer und schwerer Mangelernährung, psychosoziale Unterstützung an den Standorten Garoua-Boulaï, Gbiti und Batouri sowie weitere Aktivitäten im Bereich Wasser und Abwasserentsorgung.