„Dabin Stadt“: Wohnkomplexe dienen als Zufluchtsort

Dalal: «L’hiver approche et je ne sais pas comment nous allons survivre sans fenêtres ni chauffage lorsqu’il gèlera.»

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Die Bauunternehmer im Nordirak hatten bestimmt nicht damit gerechnet, dass in ihren neuen Gebäudekomplexen bald Tausende erschöpfter vertriebener Jesiden hausen würden. Vielleicht sind deshalb die Bauarbeiten in der neuen Dabin-Siedlung mit ihren sieben Wolkenkratzern in der Stadt Zakho noch im Gange, obschon sich in einigen der Rohbauten mittlerweile 6‘500 Binnenvertriebene eingerichtet haben.

Während mit Kränen wacklige Stapel auf die obersten, schon fertigen Etagen abgesetzt werden und unten Lastwagen schweres Baumaterial abladen, rennen Kinder auf dem Gelände herum, als wäre es ein Spielplatz. Im aufwirbelnden Staub stehen Männer in Gruppen zusammen, und an den überfüllten Wasserstellen sind die Frauen, die Kleider waschen oder Plastikkanister auffüllen.
Eine der müde aussehenden Frauen heisst Dalal. Sie ist die zweite Frau von Ahmed, einem Lehrer aus Sindschar. Die 30 Mitglieder ihrer Grossfamilie teilen sich vier Räume im sechsten Stock eines Rohbaus. Sie redet mit dem Blick auf die Kinderschar, die vor ihr auf dem nackten Betonboden sitzt. «Mein Leben hier ist ein täglicher Kampf», sagt sie tonlos. «Wo soll ich anfangen … Wir haben nicht genug Platz hier für die vielen Kinder, sie können nirgends spielen.»
Es fehlt tatsächlich an allem: Die Menschen haben kein fliessendes Wasser und keinen Strom. Es gibt nur wenige Öfen, und Brennstoff ist teuer für Menschen, die auf der Flucht alles verloren habe. Auf einigen Stockwerken stehen noch nicht mal die Aussenwände, vor allem in den oberen Etagen. Aber das grösste Problem sind die Hygienebedingungen.
«Ich habe Mühe beim Treppensteigen wegen meiner Hüftschmerzen», erklärt Dalal. «Aber die Kinder wachen in der Nacht auf und müssen zur Toilette. Es ist hart, mit ihnen im Dunkeln zu den Latrinen runter zu gehen.» Dalals Schwiegermutter kann kaum stehen; sie hat den Raum seit ihrer Ankunft nicht verlassen.
Die 20 überlaufenden Latrinen auf dem Gelände sind alles andere als ausreichend. Der Gestank ist entsetzlich, überall schwirren Fliegen herum. Derzeit werden 50 weitere Latrinen gebaut, aber die Bauunternehmer haben schon mit der Polizei gedroht, wenn auf dem Grundstück weiter gegraben wird.
Wer ins Gebäude will, muss zuerst warten, bis einem niemand mehr auf den Brettern entgegenkommt, die über dem schwarzen, faul riechenden Wasser im Erdgeschoss liegen. Ein Stockwerk höher schaufeln zwei Männer mit Mundschutz übelriechenden Dreck in Plastiksäcke, die dann unten im Gebäudeeingang einfach stehen gelassen werden.
«Unsere Zahlen zeigen, dass die schlechten Hygienebedingungen und die Überbelegung den Menschen gesundheitlich zu schaffen machen», erläutert die Ärztin Dr. Zahra im Gesundheitsposten, den Médecins Sans Frontières/ Ärzte ohne Grenzen (MSF) neben dem Gelände eingerichtet hat. «Es kommen immer mehr Leute mit Durchfall- und Magen-Darm-Erkrankungen sowie mit Hautkrankheiten zu uns», fügt sie hinzu. Die örtlichen Gesundheitsbehörden planten ursprünglich eine Cholera-Impfkampagne. Diese wurde jedoch nicht durchgeführt, weil die Jahreszeit, in der es sonst häufig zu Ausbrüchen kommt, bald vorbei ist.
Derzeit werden mehrere Lager errichtet, aber nun sind es schon zwei Monate her seit schätzungsweise 400‘000 Binnenvertriebene hier in der Autonomen Region Kurdistan angelangt sind, und keines ist fertig. Mit etwas Glück sind einige wenige Lager vor dem Wintereinbruch bezugsbereit. Auf dem Gelände hat ein Notfallteam von MSF deshalb damit begonnen, eine Wasserversorgung und sanitäre Anlagen aufzubauen. Geplant sind über 100 Latrinen und 100 Duschen sowie 50 weitere Waschbereiche. Ein 40-köpfiges Team soll angeheuert werden, um das Gelände vom Abfall zu befreien, und dann werden Hygiene-Kits verteilt. MSF-Experten arbeiten auch daran, ein Abwassersystem einzurichten.
Dalal steht im sechsten Stock vor einer Öffnung, wo ein Fenster sein sollte, und zieht an einem Seil einen Wasserkanister hoch. «Wir verbrauchen so viel Wasser und wissen nicht einmal, ob es trinkbar ist», sagt sie und fügt hinzu: «Wir haben keine Fenster. Es wird allmählich kälter, und wir haben nicht genug Decken. Der Winter kommt bald. Wie können wir hier ohne Fenster und ohne Heizung überleben, wenn es unter null Grad wird?», fragt sie.
Infektionen der oberen Atemwege sind derzeit die häufigste Todesursache. Vor dem Gesundheitsposten bilden sich lange Warteschlangen, und die Leute sind unruhig. «Die meisten Patienten haben mit Beschwerden zu kämpfen, die durch die schlechten Lebensbedingungen verursacht sind und hätten vermieden werden können. Immer mehr Leute suchen uns auf, und jeden Tag müssen wir viele von ihnen abweisen, weil wir mit den Sprechstunden nicht nachkommen», erzählt Dr. Zahra. Bis im November plant MSF eine Verteilung von über 10‘000 Decken.
Zurück in der nackten Wohnung ist es auf einmal Dalal, die Fragen stellt: «Sagen Sie mir bitte: Wann sind die Lager endlich bereit? Wann können wir umziehen? Kümmert sich überhaupt jemand um unser Schicksal?»
Trotz des anhaltenden Konflikts im Irak, der die Arbeit der humanitären Organisationen vor Ort stark erschwert, bemüht sich MSF, den Irakern, sowie syrischen Flüchtlingen im Irak, medizinische Hilfe zu leisten. Die Organisation ist seit 2006 im Land tätig. Sie akzeptiert keinerlei Mittel von Regierungen, religiösen Institutionen oder internationalen Gebern und finanziert ihre Projekte im Irak ausschliesslich aus privaten Spenden. Derzeit sind im Irak über 300 Mitarbeiter im Einsatz.