Die Menschen in der Region um Bagdad brauchen mehr internationale Hilfe
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Der MSF-Koordinator Robert Onus erzählt, weshalb die Hilfe von MSF in dieser Gegend dringend benötigt wird.
Während der Konflikt im Irak unvermindert anhält, konzentrieren die meisten Organisationen ihre Arbeit auf den Norden des Landes. Dort ist die Lage stabiler und sicherer. In Bagdad hingegen wird dringend mehr Unterstützung gebraucht, denn aufgrund der Kämpfe ist die medizinische Hilfe eingeschränkt oder Menschen können Einrichtungen nicht erreichen. MSF ist seit vergangenem Februar in der irakischen Hauptstadt und Umgebung tätig. Denn von den mehr als 3,3 Millionen vertriebenen Irakern halten sich allein 600‘000 in Bagdad auf. Der Australier Robert Onus ist als MSF-Koordinator für das Projekt im Bezirk Abu Ghraib westlich der Hauptstadt zuständig. Er berichtet von der Situation der Menschen und erzählt, weshalb unsere Hilfe dort dringend gebraucht wird.
«Wir versorgen Vertriebene und Menschen ohne ausreichende medizinische Betreuung durch das Gesundheitssystem im Raum Bagdad. Dieses Jahr eröffneten wir ein in Abu Ghraib ein Basisgesundheitszentrum. Dort gibt es eine lange Tradition, Vertriebenen Zuflucht zu gewähren. Mehr als 20‘000 vertriebene Familien aus Anbar sind seit 2014 in die Stadt gekommen. Unsere Einrichtung bietet den Vertriebenen kostenlose ambulante Behandlungen und Beratung im Bereich der Familienplanung. Unser Angebot richtet sich auch an die ansässige Bevölkerung, denn auch diese leidet unter dem beeinträchtigten Gesundheitssystem.
Zusätzlich betreiben wir mobile Kliniken in schwer zugänglichen Gegenden an den Stadträndern Bagdads. Wir wollen dort Menschen erreichen, die vor Kämpfen geflohen sind oder an Orten leben, in denen die Kämpfe eine elementare medizinische Versorgung unmöglich machen.
600‘000 Vertriebene in der Region Bagdad
Wir haben im vergangenen Jahr in unseren mobilen Klinken und im Gesundheitszentrum mehr als 20‘000 ärztliche Konsultationen abgehalten. Gemessen an dem Bedarf in der Region ist das jedoch kaum mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein. Mehr als 3,3 Millionen Iraker leben als Vertriebene im eigenen Land, davon halten sich 600‘000 allein in Bagdad auf. Meistens sind es Familien, die ihre Städte und Dörfern verlassen mussten und alles verloren haben. Viele leben jetzt in unfertigen Häusern, Schulen, Moscheen oder in provisorischen Siedlungen, oftmals unter unzumutbaren Bedingungen. Vor allem in Abu Ghraib leiden die Menschen in ihren überfüllten Unterkünften darunter, dass sie nur begrenzten Zugang zu Wasser haben und es nur unzureichende sanitären Anlagen gibt. Der negative Einfluss dieser Faktoren auf ihre Gesundheit wird sich durch den herannahenden Sommer mit Temperaturen bis 50 Grad Celsius weiter verstärken.
Durch die schlechten Lebensumstände und eine unzureichende medizinische Versorgung entsteht eine Vielzahl vermeidbarer Erkrankungen, wie Atemwegs- oder Hauterkrankungen, die wir behandeln müssen. Zusätzlich haben wir vielfach Patienten behandelt, die an chronischen Krankheiten wie Bluthochdruck, Diabetes und Herzerkrankungen leiden, aber ihren Arzt nicht aufsuchen können oder keinen Zugriff auf Medikamente haben. Unter normalen Umständen würden sie über das nationale Gesundheitssystem versorgt werden. Doch viele medizinische Einrichtungen sind beschädigt, zerstört oder personell unterbesetzt.
Es ist dringend notwendig, dass auch andere Akteure Hilfe leisten
Es gibt in Bagdad und den umliegenden Gebieten zu wenig Engagement von humanitären Akteuren. Die meisten internationalen Organisationen konzentrieren ihre Arbeit auf den Norden des Landes, wo die Lage stabiler und sicherer ist. Es müssen unbedingt mehr humanitäre Akteure aus verschiedenen Bereichen – nicht nur aus dem Gesundheitswesen – hierher kommen, um dem Bedarf der Menschen gerecht zu werden.
Ich muss als Koordinator dafür sorgen, dass unsere medizinischen Teams, Ärzte, Pflegekräfte, Apotheker und Gesundheitsaufklärer Patienten möglichst ungehindert erreichen können. Das bedeutet, dass ich viel Zeit damit verbringe, Menschen aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu treffen: Regierungsvertreter, Sicherheitsbeamte, Gemeindevorsteher und religiöse Führer. Wir müssen sicherstellen, dass diese Verantwortlichen verstehen, wer wir sind, warum wir hier sind und was wir tun: Als unabhängige und unparteiische Hilfsorganisation behandeln wir jeden Menschen, der in eine unserer Kliniken kommt, ungeachtet seiner Herkunft und seines Glaubens.
Natürlich mache ich diese Arbeit nicht allein. In unserem Bagdader Team arbeiten mehr als 50 Leute. Viele von ihnen sind auch «hinter den Kulissen» tätig und sorgen dafür, dass die medizinischen Teams den Patienten so viel Zeit wie möglich widmen können.
Die Menschen bewahren sich den Glauben an ihre Stadt
Badgad ist akut vom Konflikt betroffen. Bombenexplosionen und Schusswechsel gehören hier zum Alltag. Nach so langer Zeit ist bei den Menschen ein gewisser Gewöhnungseffekt gegenüber der Gewalt entstanden. Und doch bewahren sie sich ungeachtet der allgegenwärtigen Tragödie den Glauben an die Stadt und ihre Hoffnungen für die Zukunft. Die Menschen sind unglaublich belastbar.
Es ist schwer, sich die tausenden, vielleicht sogar Millionen tragischer Geschichten vorzustellen, die die Iraker hier erzählen könnten. Viele unserer Mitarbeiter sind selbst Vertriebene. Oft wünsche ich mir, ich hätte die Zeit, ihre Geschichten anzuhören. In wenigen Tagen beginnt der Ramadan. Ich hoffe, dann kann ich etwas Freizeit mit meinen Kollegen verbringen, ein wenig abschalten und etwas Ruhe und Sorglosigkeit geniessen.»
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