Die Psychiater – Ärzte ohne Grenzen wie die anderen
3 Min.
In Kenia oder an anderen Orten werden die Ärzte ohne Grenzen immer öfter von Psychologen begleitet. Ein Überblick anlässlich des Welttags der seelischen Gesundheit.
Der heute 25-jährige Siyad Abdi Ar wurde mit 16 Jahren von bewaffneten Männern in Somalia misshandelt. Er hat sich nie davon erholt. Seine Mutter sah sich gezwungen, ihn anzuketten, damit er nicht im Flüchtlingslager in Dadaab umherirrte, wohin die Familie im Jahr 2010 geflüchtet war.
Fast eine halbe Million Menschen leben in Dadaab dicht zusammengedrängt, nachdem sie vor der Gewalt und der Dürre in Somalia geflohen sind. Die meisten Flüchtlinge sind bei ihrer Ankunft traumatisiert. Seit 2009 betreibt MSF in Dagahaley, einem der Lager von Dadaab, ein Spital und mehrere Gesundheitszentren, wo auch psychologische Betreuung angeboten wird. In Kenia wie auch in anderen Einsatzländern von MSF sind Psychologen mittlerweile zu einem festen Bestandteil der Teams geworden.
„In Dadaab, oder in Afrika im Allgemeinen, drückt sich seelische Not oft anders aus als in den reichen Ländern. Die Leute beklagen sich über körperliche Schmerzen. Wir versuchen, ihnen während den Sitzungen klarzumachen, dass diese Schmerzen mit ihrem seelischen Zustand zusammenhangen“, erklärt der Psychiater Pablo Melgar Gomez, der von 2009 bis 2010 in Dadaab tätig war und heute mit palästinensischen Flüchtlingen im Libanon arbeitet.
Häufig reichen einige Sitzungen, um die Traumata zu überwinden. In Dadaab gab es überhaupt keine Möglichkeit, schwere Fälle wie denjenigen von Siyad Abdi Ar zu behandeln. Schizophrene oder bipolare Menschen waren sich selbst überlassen. „Als ich in Dadaab war, war ich mit einem Dutzend Kranker konfrontiert, die von ihren völlig hilflosen Familien angekettet oder eingeschlossen worden waren», erzählt Pablo Melgar Gomez. « Wegen des Mangels an psychiatrischen Einrichtungen gibt es zwar für diese Menschen keine Hoffnung auf Heilung, aber ohne unser Eingreifen wären sie heute immer noch angekettet.»
Um die dringendsten Bedürfnisse kümmern
Gemäss der Weltgesundheitsorganisation WHO leiden auf der ganzen Welt 450 Millionen Menschen an mindestens einer seelischen Störung. Davon leben 85 Prozent in Ländern mit tiefen und mittleren Einkommen. Es besteht ein enormer Mangel an Behandlungsmöglichkeiten. Im Fall von Krieg oder Naturkatastrophen kann die Anzahl Menschen mit verbreiteten seelischen Leiden wie Depressionen oder Angstgefühlen 25 bis 30 Prozent erreichen, was zwei- bis dreimal mehr ist als in normalen Zeiten.
In Extremsituationen leidet jeder Mensch unter starken Angst- oder Trauergefühlen. Das ist eine normale Reaktion auf ein abnormales Ereignis. Der Mehrheit der betroffenen Menschen gelingt es jedoch, sich an die Situation zu gewöhnen, vor allem dank der Hilfe ihres Umfelds. Wenn das nicht der Fall ist, braucht es psychologische oder psychiatrische Hilfe.
In Krisensituationen kümmern sich die Psychologen von MSF um die dringendsten Bedürfnisse. In einem Flüchtlingslager oder nach einem Erdbeben wie jenem im Januar 2010 auf Haiti zielen die Notkonsultationen darauf ab, den Patienten zu helfen, ihre traumatischen Reaktionen zu überwinden, aber auch den Menschen mit verbreiteten und schweren psychischen Störungen eine angemessene Behandlung zukommen zu lassen.
Psychische Leiden sind oft schwierig zu erkennen, weil sie sich häufig in physischen Leiden äussern. Zur Arbeit von MSF gehört es deshalb auch, das Personal darin zu unterstützen und zu schulen, solche Patienten zu erkennen. Es handelt sich dabei typischerweise um Menschen, die sich über diffuse Schmerzen beklagen oder mehrere Male aus dem gleichen Grund kommen, ohne dass man eine Diagnose stellen kann. Daher ist es notwendig, die Betreuung der seelischen Gesundheit in die von MSF geleistete Pflege zu integrieren.
Psychologen überall?
Auch die Vergewaltigungsopfer in der Demokratischen Republik Kongo oder die Gewaltopfer in Guatemala und in Honduras können von der psychologischen Betreuung profitieren. Auch wenn die Präsenz von Psychologen in Not- oder Konfliktsituationen mittlerweile selbstverständlich ist, ist sie in anderen Einsatzgebieten noch lange nicht gesichert. Dabei kann eine psychologische Begleitung auch in anderen Zusammenhängen durchaus sinnvoll sein. «Eine depressive Mutter kann sich nicht richtig um ihr Kind zu kümmern, damit es an Gewicht zulegen kann. Genauso kann psychologische Hilfe auch HIV/Aids- oder Tuberkulosepatienten bei der Einhaltung ihrer Therapie unterstützen», erklärt Pablo Melgar Gomez.
Im Jahr 2011 haben die Teams in den Einsatzländern von MSF insgesamt fast 170'000 Einzelkonsultationen sowie 19'200 Gruppensitzungen durchgeführt.