Ein Vater, drei Söhne, das Meer und die Hoffnung
© Virginie Nguyen Hoang
4 Min.
Candida Lobes ist Kommunikationsmanagerin an Bord unseres Such- und Rettungsschiffs Geo Barents. Bei einer komplizierten Rettung am 16. November lernte sie Ali, seine Brüder und deren Vater kennen. Eine Woche später blickt sie zurück. Ein Bericht:
Ali* ist 7 Jahre alt - er hält die Hand seines Vaters, als unser Team ihn aus dem Rettungsboot auf das Deck der Geo Barents hilft. Moustafa, Alis Vater, humpelt. Es muss ihm schwerfallen aufzustehen, nachdem er stundenlang in der gleichen Position in einem überfüllten Boot gesessen hat und nun auf der schwankenden Geo Barents steht. Aber Ali hilft ihm, hält ihn fest. Als ich zu ihnen komme und den beiden eine Wärmedecke um die Schultern lege, bemerke ich den arabischen Schriftzug auf dem Arm des Jungen.
Ich hatte Angst, dass ich es nicht schaffe, also habe ich auf Alis Arm die Kontaktdaten seiner Mutter in Syrien geschrieben. Ich hatte gehofft, dass sich jemand um meinen Sohn kümmern und sie informieren würde, wenn mir auf dem Boot etwas zugestossen wäre.
Moustafa erzählt mir, dass sie Libyen am Vortag mit dem Holzboot verlassen haben. «Als ich all die Menschen sah, die an Bord kamen, wurde mir klar, dass es zu voll ist. Ich hatte Angst, wollte von Bord gehen und schrie den Mann an, den ich bezahlt hatte, um auf das Boot zu kommen, er solle uns gehen lassen», sagt Moustafa. «Aber es war zu spät. Der Mann drohte, meine Söhne und mich zu erschiessen. Wir hatten keine Wahl.»
99 Überlebende, 10 Tote
Moustafa und seine drei Söhne gehören zu den 99 Überlebenden, die unser Team auf der Geo Barents am 16. November während einer schwierigen Such- und Rettungsaktion in etwa 30 Seemeilen vor der libyschen Küste entfernt, geborgen hat. Die Überlebenden berichteten, dass sie von der Küste bei Zuwara am späten Abend des 15. November mit 109 Personen abgelegt hätten. 109 Menschen in einem kleinen Holzboot.
Nach einigen Meilen auf See verschlechterte sich das Wetter, die Wellen wurden höher und der Motor fiel aus.
Die Menschen gerieten in Panik, wir hatten Frauen und Kinder an Bord, sie hatten alle Angst. Sie weinten, schrien und brachten aus Verzweiflung das Boot zum Schwanken. Ich konnte nichts tun, ich konnte nur zu Gott beten, dass meine Söhne am Leben bleiben.
Nachdem unser Team das in Seenot geratete Holzboot am frühen Nachmittag erreichte und die Überlebenden an Bord der Geo Barents gebracht hatte, entdeckten wir die Leichen von 10 Personen. Sie befanden sich im Bodenraum des Bootes. Vermutlich waren sie an giftigen Treibstoffdämpfen erstickt. Die Überlebenden berichteten uns, dass die Menschen mehr als 13 Stunden auf dem beengten Unterdeck des Bootes verbracht hatten.
Die eine Gemeinsamkeit
Viele der Menschen, die an diesem Tag gerettet wurden, haben im Laufe ihrer Reise eine Reihe von traumatischen Ereignissen überlebt, schon bevor sie dieses Boot betraten. Unabhängig von den Gründen, die sie zum Verlassen ihres Herkunftsortes bewegt haben, gibt es in ihren Berichten immer eine Gemeinsamkeit: die Erfahrung von Gewalt, Entbehrungen und die Angst um ihr Leben und das ihrer Angehörigen.
Ich habe keine Wünsche mehr für mein Leben, ich will nur ein gutes Leben für meine Söhne. Ich will, dass sie in Sicherheit sind und dass sie endlich eine gute Ausbildung bekommen.
Moustafa sitzt mit Schmerzen auf dem Boden. Er hat einen externen Metall-Fixator an seinem rechten Bein, der ihn hinken lässt. Er sagt, er habe seit 2011 Schmerzen, als sein Bein in Syrien schwer verletzt wurde. «Es kamen Männer zu mir in den Laden und verriegelten die Tür. Sie schlugen mit Gewehrkolben und allem, was sie fanden immer wieder auf mich ein», sagt Moustafa und zeigt mir eine lange Narbe, die noch immer an seinem Kopf zu sehen ist. «Ich bin bewusstlos geworden, sie dachten, ich sei tot. Ein paar Stunden später wachte ich in einer leeren Strasse auf, hinter einigen verlassenen Gebäuden, mit einem gebrochenen Bein und voller Blut.»
Moustafa stammt aus Babbila, einem südlichen Vorort von Damaskus, der seit 2011, als der Konflikt begann, vier Jahre lang belagert wurde. Als die Belagerung 2015 aufgehoben wurde, beschloss er, mit seinen drei Söhnen zu fliehen. Ali war zu diesem Zeitpunkt erst ein Jahr alt. Ihre Reise war seitdem lang und schwierig: Die Familie verbrachte fast einen Monat im Sudan und zog dann nach Ägypten, wo die Bedingungen hart waren.
Im September 2021 traf Moustafa - arbeitslos und ohne gültige Pässe - die schwierige Entscheidung, nach Libyen zu gehen. Das Mittelmeer zu überqueren schien ihm die beste Hoffnung, seinen Söhnen wenigstens die Chance zu geben, eine Schule zu besuchen. Der Vater und seine Söhne gelangten über Ägypten nach Libyen; ihr Weg führte über Benghazi und Tripolis, dann nach Sabratah und Zuwara, um schliesslich das kleine Holzboot zu finden, von dem unser Team sie rettete.
Im Jahr 2021 sind schätzungsweise 1303 Menschen bei dem Versuch, das zentrale Mittelmeer zu überqueren, ums Leben gekommen oder vermisst worden. Seit 2014 waren es auf der gleichen Route 22 825 Menschen. Seit Beginn der Such- und Rettungsaktivitäten im Jahr 2015 hat Ärzte ohne Grenzen medizinische Teams an Bord von acht Rettungsschiffen entsandt, die teilweise in Partnerschaft mit anderen Organisationen betrieben werden. Insgesamt haben die Such- und Rettungsteams von Ärzte ohne Grenzen mehr als 82 000 Menschen geborgen. Die Geo Barents ist das derzeitige gecharterte Such- und Rettungsschiff, das im Mai 2021 seinen Betrieb aufnahm. Zwischen Mai und November 2021 wurden insgesamt 1345 Menschen an Bord der Geo Barents gerettet.
*Die Namen wurden geändert
© Virginie Nguyen Hoang