Gazastreifen: «Was wir hier Tag und Nacht erleben, ist schrecklich.»
© Mohammed Abed/ AFP
Palästinensische Autonomiegebiete3 Min.
Nach wochenlangen Spannungen in Ost-Jerusalem, einem von Israel besetzten und illegal annektierten Gebiet, kam es erneut zu Zusammenstössen zwischen der israelischen Armee und bewaffneten palästinensischen Gruppierungen, darunter die Hamas. Aymen Al Djaroucha ist Palästinenser und lebt seit 20 Jahren in Gaza. Er ist derzeit Projektkoordinator für Ärzte ohne Grenzen und berichtet über die extreme Gewalt in der Enklave.
«Ich habe die israelischen Offensiven von 2008 und 2014 miterlebt: Die aktuelle Militäroperation ist um einiges aggressiver und furchterregender als alles, was wir bisher gesehen haben.
Tag und Nacht wird bombardiert, pausenlos. Strassen, Häuser, Gebäude, alles wird zum Ziel. Der Gazastreifen ist nur 40 Kilometer lang. Egal, wo die Bomben einschlagen, wir hören es. Es gibt ständig Explosionen. Die Intensität der Angriffe und das Ausmass der Gewalt ist anders als alles, was wir bisher gesehen haben. Die Raketen kommen von überall: aus den Flugzeugen im Himmel, den Panzern am Boden, den Booten im Mittelmeer. Was wir hier Tag und Nacht erleben, ist schrecklich.
Das Gebäude, in dem ich mit meiner Frau, meiner Mutter und meinen Kindern in Gaza-Stadt lebte, wurde vor 4 Tagen durch einen Luftangriff beschädigt. Unser Hausmeister bekam einen Anruf, dass alle Bewohner das Gebäude evakuieren sollten, da es bombardiert werden würde. Normalerweise dauert es ein paar Minuten bis zu einer Stunde, bevor der Angriff stattfindet. Wir sind alle zusammen in weniger als einer Minute die acht Stockwerke hinuntergelaufen. Ich habe versucht, meine Familie so weit weg wie möglich in Sicherheit zu bringen.
Ich erinnere mich, wie meine Frau sagte, dass sie nicht wolle, dass der Ort, an dem sie aufgewachsen ist, an dem sie alle ihre Erinnerungen hatte, zerstört wird. Dann hörte ich die Explosion, ich sah den Staub und die Trümmer des Gebäudes durch die Luft fliegen, alles fing Feuer. Das Gebäude wurde beschädigt, mehrere Wohnungen wurden zerstört und ich weiss nicht, was von unserer Wohnung übrig geblieben ist, oder ob wir wieder dort wohnen werden können. Seitdem lebt meine Familie bei meiner Schwiegermutter und ich schlafe im Büro und arbeite die meiste Zeit. Ich fühle mich wie in einem Albtraum, aus dem ich nicht mehr aufwachen kann.
Viele Familien, die im östlichen Teil des Gazastreifens lebten, flohen aus Angst vor einer israelischen Bodenoffensive in den Westen. Sie flohen in das Al-Shifa-Spital, das grösste in Gaza, und in Schulen des UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten).
Den Angriff, der in der Nacht vom 15. auf den 16. Mai nur wenige Meter von unserem Büro entfernt stattfand, kann ich nicht mehr vergessen. Die Schreie der Männer und Frauen mitten in der Nacht gingen mir durch Mark und Bein, dutzende von Menschen starben. In der gleichen Nacht wurde auch unsere Klinik durch einen Bombenangriff der israelischen Armee beschädigt.
Die Verwundeten haben Knochenbrüche, Verletzungen von Granatsplittern und Schusswunden. Es besteht ein grosser Bedarf im Bereich Chirurgie, insbesondere orthopädische Chirurgie, und auf der Intensivstation. Die Patienten sind Frauen, Männer und Kinder: Keiner wird verschont.
Die geplanten Vertreibungen palästinensischer Familien im Sheikh-Jarrah-Viertel in Ost-Jerusalem haben das Fass zum Überlaufen gebracht, gefolgt von den Zusammenstössen auf der Esplanade der Moscheen mitten im Ramadan. Ich habe die Zweite Intifada Anfang der 2000er Jahre miterlebt, aber die heutige Gewalt übersteigt alles. Auch der massive Einsatz von Waffen bei den Auseinandersetzungen ist neu. Hunderte von Raketen werden auf Israel abgefeuert und der Gazastreifen wird beschossen.
Das ist das Schicksal der Menschen im Gazastreifen. In nur wenigen Jahren haben wir mehrere Kriege erlebt, wir wissen nicht, wann das alles zu Ende sein wird, wann wir endlich ein normales Leben führen können. »
Zwischen dem 10 und dem 18. Mai 2021 wurden bei den Luftangriffen auf den Gazastreifen 213 Menschen getötet, darunter mindestens 61 Kinder. Es gab über 1400 Verletzte. In Israel führte der Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen zu 12 Toten, darunter zwei Kinder.
© Mohammed Abed/ AFP