Irak: «Die Zukunft der Menschen ist völlig ungewiss»
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Fabio Forgione, MSF-Landeskoordinator, beschreibt die zahlreichen Schwierigkeiten, die sich bei der Arbeit in einem von Konflikt und Gewalt gezeichneten Land ergeben.
Im Irak hat die um sich greifende Gewalt annähernd 2,6 Millionen Menschen vertrieben. Es ist damit eine der grössten Bevölkerungsvertreibungen der vergangenen Jahrzehnte. Fabio Forgione, Landeskoordinator von Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF), beschreibt die Lage in der Krisenregion.
«Diese jüngste humanitäre Krise im Irak geht bereits ins zweite Jahr, und wir bereiten uns derzeit auf das vor, was uns als Nächstes erwartet. Die Menschen fliehen vor der fast allgegenwärtigen und immer brutaleren Gewalt. Ganze Dörfer werden bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Die massiven Vertreibungen belasten auch die Bevölkerung in den Regionen, wo sich die Flüchtlinge niederlassen. Doch zahlreiche Familien haben noch immer keinen Zufluchtsort, da konfessionelle Grenzen oft den Zugang zu sichereren Gebieten behindern und die internationale Hilfe nicht bei ihnen ankommt.
Die Krise ist im Dezember 2013 ausgebrochen, als die Gruppierung des sogenannten Islamischen Staates (IS) die Kontrolle über die Stadt Falludscha übernahm. Mittlerweile haben sich die Kämpfe auch auf den Grossteil des Nordens und den Zentralirak ausgeweitet. Aufgrund der jüngsten Ausweitung des Konflikts ist die Zahl der Menschen, die sich auf der Flucht befinden, nochmals gestiegen und geht mittlerweile in die Hunderttausende.
Zudem darf nicht vergessen werden, dass im Irak und insbesondere im kurdischen Teil des Landes annähernd eine Viertelmillion Flüchtlinge leben, die vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflohen sind.
Gesundheitsversorgung in Konfliktgebieten
Wir bemühen uns nach Kräften, den am stärksten betroffenen Menschen zu helfen und die medizinische und humanitäre Unterstützung auch in frontnahen Gebieten aufrechtzuerhalten. Der Zugang zu diesen Gebieten ist oft sehr schwierig, und die Bevölkerung dort erhält kaum Hilfe. Der Bedarf ist jedoch enorm hoch, zumal die meisten öffentlichen Dienste nicht mehr funktionieren und die Infrastruktur oft zerstört ist. Wir setzen auf einen flexiblen Ansatz und entsenden kleine mobile Kliniken, sobald es die Sicherheitslage erlaubt. Allein im März leisteten die MSF-Teams insgesamt 22‘041 Sprechstunden.
Viele der versorgten Patienten benötigen Medikamente gegen chronische Krankheiten. Die meisten unter ihnen sind Frauen und Kinder, von denen der Grossteil seit Monaten nicht mehr beim Arzt gewesen ist. Die Menschen sind zudem meist traumatisiert. Sie haben alles verloren, viele mussten mitansehen, wie Angehörigen getötet wurden, und ihre Zukunft ist vollkommen ungewiss. Deshalb sind in unseren Teams wo immer möglich auch Psychologen dabei, die eine entsprechende Hilfe anbieten können.
Unsere medizinischen Teams haben jedoch grosse Schwierigkeiten, abgelegene und schwer zugängliche Gebiete wie etwa die Stadt Zumar und andere Dörfer im nördlichen Teil des Gouvernements Ninawa zu erreichen. Im Gouvernement Salah ad-Din bietet MSF in Kirkuk und anderen Ortschaften entlang der Strasse nach Tuz Khurmatu umfassende medizinische Leistungen in den Bereichen primäre Gesundheitsversorgung, sexuelle und reproduktive Gesundheit, Behandlungen chronischer Krankheiten und psychologische Betreuung. Ein weiteres Team ist in Abu Ghuraib stationiert und bietet tausenden Familien, die vor Kurzem aus Ramadi geflohen sind, medizinische Versorgung an.
Schwierige Sicherheitslage
Die extrem unbeständige Sicherheitslage macht den Alltag für die Iraker äusserst schwierig und stellt für unsere Teams vor Ort das grösste Hindernis dar. Angesichts der verzweifelten Lage unserer Patienten stellen wir uns aber den Risiken. Doch manchmal müssen wir unsere Teams sofort abziehen, etwa wenn Angriffe, militärische Operationen oder ernsthafte Zwischenfälle keine Hilfe vor Ort mehr erlauben.
In einigen Gegenden stellen Blindgänger eine grosse Gefahr für unsere Mitarbeitenden dar, und auch Checkpoints bilden eine Zielscheibe. Wir müssen die Sicherheitslage dauernd im Auge behalten und alle Risiken genau abwägen. Entscheidend für uns ist, dass wir gute Kontakte zu Behörden, Scheichs, Stammesführern und Gemeindevorstehern pflegen, damit wir von der Bevölkerung akzeptiert werden und in diesem volatilen und zersplitterten Umfeld neutral unserer Arbeit nachgehen können.
Trotz der schwierigen Sicherheitslage konnten wir den Beweis erbringen, dass es für internationale humanitäre Organisationen durchaus möglich ist, in diesen Gebieten tätig zu sein.
Verstärkung der internationalen Hilfe erforderlich
Noch immer müssen Tausende Iraker komplett ohne humanitäre Unterstützung auskommen. Verglichen mit dem Bedarf ist die internationale Hilfe völlig unzureichend. Die meiste Unterstützung stammt von lokalen Organisationen und kann angesichts des enormen Bedarfs nur wenig ausrichten. Seit über einem Jahr mangelt es vor allem im Zentralirak an humanitärer Unterstützung, und bis heute fehlt ein konkreter Notstandsplan zum Umgang mit weiteren Massenvertreibungen, die im Hinblick auf die sich ausbreitenden Kämpfe zu befürchten sind.
Wir sorgen uns vor allem um die Menschen in den Gebieten, auf die der Konflikt demnächst übergreifen könnte. Wir treffen alle Vorkehrungen, die in unserer Macht stehen, doch verschiedene internationale NGOs, die im Irak tätig sind, befürchten bereits, dass die Mittel der internationalen Geldgeber bald gestrichen werden könnten, wenn der humanitäre Bedarf weiterhin nur steigt. Die Staaten und internationalen Organisationen müssen ihre Hilfe deshalb dringend verstärken und sich auf einen umfassenden Notstandsplan einigen, damit auf die drohenden Massenvertreibungen angemessen reagiert werden kann.»