Kein Tabu für psychische Erkrankungen - Gemeinschaftsprojekt im Libanon
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Depressionen stehen weltweit auf der Liste der gängigsten Erkrankungen auf Platz vier- erwartet wird jedoch, dass sie bis zum Jahr 2020 bereits den zweiten Platz einnehmen werden. Epidemiologische Untersuchungen haben gezeigt, dass gerade in Entwicklungsländern psychische Erkrankungen deutlich zunehmen. Diese Störungen werden zumeist weder diagnostiziert noch behandelt. Gewalt, Verletzung der Menschenrechte, Armut, Ungleichheit der Geschlechter und ein niedriger Bildungsstand führen zu einer Verschärfung der Probleme durch psychische Erkrankungen.
Untersuchungen im Libanon (1) haben gezeigt, dass 17 % Prozent der Gesamtbevölkerung die Kriterien für eine psychische Störung erfüllen. Es wurde deutlich, dass psychische Probleme in der grossen Gemeinschaft palästinensischer Flüchtlinge sogar noch weiter verbreitet sind. Schliesslich leben diese Menschen dort ohne Arbeitserlaubnis oder das Recht auf eine Einbürgerung. 37 % der Frauen und 19 % der Männer, die die Gesundheitszentren besucht haben, berichten über ein durchschnittliches bis hohes Angstniveau.
Insgesamt erhalten nur wenige Menschen im Libanon die erforderliche medizinische Behandlung. Die Gründe dafür sind vielfältig. Dazu gehören der Mangel an Angeboten, an qualifizierten Kräften und die Tatsache, dass sich die meisten Angebote hauptsächlich an Kinder richten. Neben dem unzureichenden Behandlungsangebot haben die Furcht vor einer Stigmatisierung als psychisch Kranke sowie die Kosten einer Behandlung, die von den Betroffenen nicht übernommen werde können, die Situation verschärft.
MSF wurde auf diesen Mangel an Hilfe für psychisch Kranke im Libanon während des Krieges im Jahr 2006 aufmerksam. Im Jahr 2008 hat ein MSF-Team eine eingehende Analyse der benötigten humanitären Hilfe erstellt. Diese Analyse führte im Dezember des gleichen Jahres zum Start eines Gemeinschaftsprojekts für psychische Erkrankungen am Stadtrand von Beirut.
Das Gesundheitszentrum für psychische Erkrankungen von MSF befindet sich in der Nähe eines grossen palästinensischen Flüchtlingslagers in Burj El Barajneh und bietet kostenlose Behandlung, Beratung und Pflege für psychisch Kranke. Dabei richtet es sich hauptsächlich an die von der Gemeinschaft ausgeschlossenen Menschen. Dies sind gleichermassen libanesische Bürgerinnen und Bürgern als auch palästinensische und irakische Flüchtlinge. Das Projekt hat sich neben der Bereitstellung von direkter Hilfe auch die Aufklärungsarbeit über psychische Erkrankungen in der gesamten Gesellschaft zur Aufgabe gemacht.
Interview mit einer Psychiatrieschwester
Farah Malyani ist Palästinenserin und arbeitet als psychiatrische Krankenschwester im Gesundheitszentrum in Burj El Barajneh.
„Das Zentrum von MSF befindet sich in einem Gebiet mit grosser Armut und viel Leid. Wir sehen hier viele Menschen, deren Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden. Sie haben mehrere Kriege erlebt. Viele der Menschen in den Flüchtlingslagern leben hier seit mehreren Generationen. Auf diese Art und Weise ist eine Vielzahl an individuellen psychischen Gesundheitsproblemen entstanden. Ich habe früher in einem Krankenhaus mit psychiatrischen Patienten in Beirut gearbeitet. Die Schwierigkeiten, mit denen wir hier konfrontiert werden, sind jedoch ganz anders.
Die Arbeit löst bei mir ganz unterschiedliche Gefühle aus. Manchmal berichten die Menschen hier von ihren ganz alltäglichen Schwierigkeiten. Sie haben beispielsweise nichts zu essen oder wissen nicht, wo sie schlafen sollen. Das führt mir vor Augen, dass sie um die Erfüllung ganz grundsätzlicher menschlicher Bedürfnisse kämpfen. Es ist dann sehr schwierig, sich gefühlsmässig nicht zu sehr darauf einzulassen. Ich habe Mütter kennengelernt, die aufgrund ihrer Depressionen nicht in der Lage sind, sich um ihre Familien zu kümmern. Ich kann dann nicht anders, ich denke einfach, ich wäre an ihrer Stelle total verloren. Aber es ist meine Aufgabe, diesen Menschen zu helfen. Darum muss ich stark sein.
Am Anfang war ich total überwältigt. Ich habe mich ständig gefragt: Wie können wir den Menschen helfen? Wird Zuhören und das Verteilen von Medikamenten wirklich ausreichen? Letztendlich habe ich eingesehen, dass es den Menschen schon besser geht, wenn jemand ihnen wirklich zuhört. Zudem können die Medikamente dabei helfen, Ängste und Depressionen zu bekämpfen. Das macht schon einen Unterschied. Durch die Behandlung können die Menschen wieder ihrer Arbeit nachgehen und sich um ihre Kinder kümmern. Obwohl es sich hier um ein noch neues Projekt handelt, haben wir bei unseren Patienten bereits viele Fortschritte beobachtet. Es ist grossartig, das zu sehen.
Wir versuchen zudem als Team, die Wahrnehmung von psychischen Störungen in der Gesellschaft zu verändern, damit die Betroffenen nicht mehr stigmatisiert werden. Wie oft haben Patienten schon zu mir gesagt: „Ich bin doch nicht verrückt! Denken Sie bloss nicht, dass ich verrückt bin!“ Ich erkläre ihnen dann, dass ihr Zustand von einer psychischen Erkrankung ausgelöst wird und dass diese wie Bluthochdruck oder Diabetes behandelt werden kann.“
Salwa
Salwa ist Libanesin und ist mit einem Palästinenser verheiratet. Das Paar hat vier Kinder. Sie wurde im Gesundheitszentrum für psychische Erkrankungen von MSF behandelt. Jahrelang litt sie an unerklärlichen körperlichen Schmerzen, chronischer Müdigkeit und Panikattacken, wodurch sie kein normales Leben mehr führen konnte.
„Vor ein paar Monaten hat eine gute Freundin mir geraten, mich an das Zentrum von MSF zu wenden. Ich ging dorthin, weil ich gehört hatte, dass dort kostenlos psychologische Hilfe angeboten wird. Ich habe doch kein Geld.
Nach jeder einzelnen Sitzung ging es mir etwas besser. Ich fing sogar an, mich an den sozialen Aktivitäten im Zentrum zu beteiligen und lernte dabei andere Frauen mit ähnlichen Problemen kennen. Ich fühlte mich mit meinen Problemen nicht mehr so alleine und begann, mich besser zu fühlen.
Mein Leben hat eine ganz neue Wendung genommen. Heute kann ich über meine psychischen Probleme sprechen und diese akzeptieren. Ich habe keine Angst mehr davor, was andere über mich denken. Früher hatte ich Angst, dass andere mich als „verrückt“ oder „überspannt“ bezeichnen. Jetzt bin ich einfach froh darüber, dass ich Menschen habe, mit denen ich reden kann und die mir geholfen haben, zum ersten Mal an mich selbst zu glauben.
Ich habe wirklich angefangen, das Leben zu lieben, das Glas als halbvoll und nicht als halbleer zu betrachten. Ich ermutige auch andere in meiner Gemeinschaft, hierher zu kommen, wenn sie das Bedürfnis dazu empfinden. Es gibt keinen Grund, sich zu schämen. Mein Leben hat sich wirklich verändert.“
(1) Karam EG, Mneimneh ZN, Karam AN, Fayyad JA, Nasser SC, Chatterji S, Kessler RC. Prevalence and treatment of mental disorders in Lebanon: a national epidemiological survey. Lancet. 2006 Mar 25;367(9515):1000-6.