Kreislauf des Vertrauens: Ein psychologischer Notfall

Guatemala City, 30/03/2008.

7 Min.

In Guatemala gibt es noch immer keinen staatlichen Gesundheitsdienst, der den Überlebenden sexueller Gewalt psychologische Unterstützung bieten kann. Diese Lücke wird von MSF überbrückt. In der Hauptstadt Guatemalas erhalten mittlerweile 100 Patienten jeden Monat Hilfe, ihr emotionales Trauma zu überwinden.

Der erste Kontakt mit Karina entstand, als ihre Mutter sie in die MSF-Klinik brachte. Nachdem Karinas Regel einige Zeit ausgeblieben war, suchten sie nun endlich Hilfe. Mutter und Tochter hatten im Justizministerium die Vergewaltigung angezeigt und dort von MSF gehört.
Karina kam in die „Amparo Dos“-Klinik im Bezirk Zona 7 in der Hauptstadt. Hier wurde sie von Wendy Mérida empfangen, einer der Psychologinnen, die MSF in die staatliche Klinik entsandt hat.  „Es fällt dem Mädchen sehr schwer, über ihr Erlebnis zu sprechen.  Sie ist sehr still. Es ist ein hartes Schicksal, durch sexuelle Gewalt schwanger zu werden", erklärt Wendy Mérida. „Das Baby ist jetzt vier Monate alt, Karina selbst ist erst 13. Ihre Freunde gehen in die Schule und spielen, während sie Mutter ist. Es ist unheimlich schwer für sie, ihr Leben neu zu ordnen.“
Guatemala ist eines der am meisten von Gewalt betroffenen Länder weltweit. In der Hauptstadt behandelt MSF die Bevölkerung, die am stärksten unter dieser Gewalt leidet und am wenigsten Unterstützung erhält: Überlebende sexueller Gewalt. In Guatemala mangelt es sowohl an Ressourcen als auch an Bewusstsein. Daher gibt es noch immer kein angemessenes Angebot an medizinischen oder psychologischen Behandlungsmöglichkeiten für die Vergewaltigungsopfer. 2007 begann MSF, diese Lücke zu füllen. Nur zwei Jahre später erhalten bereits 100 Patienten jeden Monat klinische und psychologische Behandlungen vom MSF-Team.
Manifestationen des Missbrauchs
Zuallererst einmal ist sexuelle Gewalt ein Akt der Macht und der Erniedrigung“, erklärt Mayra Rodas, psychologische Koordinatorin bei MSF. „Es ist eine Erfahrung, auf die niemand je vorbereitet sein kann. Dies erzeugt ein Trauma.”
Sexuelle Gewalt drückt sich auf verschiedene Arten aus. „Überlebende fühlen Wut, Angst und Einsamkeit. Das stärkste Gefühl ist Schuld", sagt Mayra Rodas. „Oft fragen sich die Opfer immer wieder: Warum war ich da? Warum habe ich mich so angezogen? Warum habe ich mich nicht verteidigt? Warum habe ich nicht geschrieen? Habe ich den Übergriff herausgefordert? Ist es meine Schuld?"
Sexuelle Gewalt tritt zudem in vielen Formen auf. Sie kommt entweder aus der Familie selbst, von Vätern, Onkeln, Cousins, oder von Fremden, in Einzelübergriffen oder im Zusammenhang mit den Aktivitäten einer Gang. MSF sieht eine Zweitelung zwischen dem Opfer bekannten und unbekannten Tätern. Sexuelle Gewalt kommt zudem in allen sozialen Schichten einer Gesellschaft vor. Während die Mehrzahl der Patienten weiblich ist, verzeichnen MSF zudem ungefähr vier Prozent Männer, die Hilfe suchen.
Wendy Mérida erinnert sich an die Sitzungen mit Karina und vielen anderen Überlebenden: „Sie bleiben als vergewaltigte Frauen gebrandmarkt. Das ist in dieser Macho-geprägten Gesellschaft besonders schwer - der Wert einer Frau beruht hier auf ihrer Jungfräulichkeit. Dazu haben sie Angst, dass es wieder passieren könnte. Weil es schlichtweg jederzeit passieren kann.“
Frauen in einer männlich dominierten Welt
Um zu verstehen, warum sexuelle Gewalt in Guatemala so ein dringliches Problem ist, greift Mayra Rodas auf die Geschichte des Landes zurück: „Wir sind ein Land voller Gewalt. Wir haben eine 30-jährige Geschichte voller Kriege, die noch immer nicht gelöst wurden. Frauen sind angreifbar. Wir leben in einer Macho-orientierten, von Männern dominierten Gesellschaft. Frauen werden wie Objekte behandelt, die einfach genommen werden können. Wir Frauen haben durch die Verhältnisse, in die wir geboren wurden, weniger Selbstbewusstsein. Hier Frau zu sein ist, als sei man nichts als Dreck. So erzählen uns das unsere Patienten.”
„Sexuelle Gewalt ist etwas, was einen zeichnet. Aber es ist möglich, sie zu überwinden“, sagt Mayra Rodas. „Wenn die sexuelle Gewalt von aussen kommt, können wir an die Patientin appellieren, sich auf die Beziehung mit der Familie zu verlassen, die Familie als eine andere Welt zu sehen." Wenn Vergewaltigung innerhalb der Familie begangen wird, ist es schwieriger: der erste Kreislauf des Vertrauens ist gebrochen. In diesen Fällen braucht die Therapie viel länger.
„In vielen Fällen ist unsere Arbeit ganz abstrakt, es sind einfach nur Worte. Ich muss oft klar stellen, dass ich keine Tabletten oder Impfungen habe, mit denen man sich besser fühlt", erklärt Wendy Mérida.  „Es ist ein Prozess, bei dem man seine eigenen Gefühle erkunden muss, so dass man über sie sprechen kann. Jeder Einzelne hat eine völlig individuelle Geschichte. Wir versuchen, die Patienten dazu zu befähigen, ihre Geschichte zu erzählen.“

Den Kreislauf des Vertrauens wieder aufbauen
Wendy Mérida gibt ein Beispiel einer Strategie, die sie unter anderen bei Karina angewandt hat:
„Der erste Schritt für den Patienten ist es, wieder ein Gefühl der Selbstsicherheit zu erlangen. Dafür bauen wir die Merkmale des Vertrauens auf."
 Um dies zu erreichen, fragt Wendy ihre Patientin: „Gibt es jemandem, dem du vertraust?“ Die Patientin antwortet dann vielleicht „Ja, meine Mutter." Die Psychologin fragt dann: „Was sind die charakteristischen Merkmale deiner Mutter?" und erhält vielleicht die Antwort „Sie ist lieb, sie ist ehrlich." So wird dann mit anderen Personen fortgefahren, bis eine Liste von Merkmalen aufgestellt werden kann, die auf Menschen zutreffen, denen die Patientin vertraut. Danach entdecken Patientin und Psychologin, dass der Angreifer einer anderen Liste von Merkmalen entspricht. Dadurch sieht die Patientin, dass der Angreifer ein völlig anderer Mensch ist als die, denen sie vertraut. „Das zeigt, dass der Angreifer nur ein Einzelner war und dass die anderen Menschen, denen vertraut werden kann, eben genau das sind: andere Menschen. Die Patientin kann so lernen, zu entscheiden, welchen Menschen sie vertraut."

Psychologen sind ein wesentlicher Teil des multidisziplinären Teams von MSF, das aus medizinischem Personal und Sozialarbeitern besteht. Zudem gibt es Mitarbeiter, welche die Bevölkerung über die Existenz des Programms aufklären. „Wenn die Leute zu uns kommen sagen sie oft, sie hätten nicht gewusst, dass ein solcher Dienst existiert und dass es überhaupt eine Behandlung für sie gibt", sagt Mayra. „Die Menschen sind dankbar dafür, in den zwei staatlichen Kliniken unsere vertrauliche und kostenlose Behandlung zu bekommen. Wir arbeiten an diesen Orten, weil die Menschen kein Geld haben, für diese Therapien zu bezahlen. Und selbst wenn sie es hätten ist die medizinische oder psychologische Unterstützung oft gar nicht vorhanden." Und sie sagt abschliessend, „Ich hoffe, Guatemala wird seine Tore öffnen und es wird allen klar werden, dass sexuelle Gewalt ein medizinischer und psychologischer Notfall ist."

Karina steckt noch mitten in dem langen und schweren Prozess der Heilung. Die 13-jährige hatte eine schwere Geburt: sie brauchte einen Kaiserschnitt und sah ihren Körper sich verändern. Es fällt ihr schwer, damit umzugehen. Was ihr sehr geholfen hat ist, zu wissen, dass der Täter nun im Gefängnis sitzt. Es gibt ihr Sicherheit und ein Gefühl von Gerechtigkeit. Sie hat ihren Weg aus der Angst gefunden.

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SRQ20: ein Instrument für die psychologische Untersuchung
MSF benutzt ein psychologisches Untersuchungsinstrument, den  SRQ20[1]  (Self-Reporting Questionnaire), um zu einer grundlegenden Einschätzung des Patienten zu kommen. Dank dieses Hilfsmittels erhalten MSF nun mehr Informationen bezüglich des Grades der psychologischen Notlage der Patienten und der Faktoren, die diese verstärken oder mildern könnten. Im Durchschnitt liegen die 304 Patienten, die bisher den SRQ genutzt haben, bei 14, ein Schnitt, der eine erhebliche psychologische Notlage bei diesen Überlebenden widerspiegelt.
Natürlich werden die psychologischen Folgen von Vergewaltigung von vielen Faktoren beeinflusst. MSF hat einige solcher Faktoren identifiziert, die das psychologische Trauma noch verschlimmern können.
Die bisherige Erfahrung von MSF zeigt, dass Patienten, deren Vergewaltigung eine lange Zeit zurückliegt und die nie Hilfe aufgesucht haben, im Allgemeinen eine schwierigere psychologischen Notlage aufweisen, als die Patienten, die kurz nach dem Vorfall zu ihnen kommen. Dies wurde den Psychologen zunächst anekdotisch deutlich und wird nun bestätigt: der SRQ zeigt, dass Patienten, die spät Hilfe suchen, im Durchschnitt auch höher auf der SRQ-Skala abschneiden. 

[1] SRQ20 wurde von der Weltgesundheitsorganisation als Instrument für psychiatrische Erkrankungen entwickelt und ist weltweit im Gebrauch. Er besteht aus 20 Fragen, die der Patient mit Ja oder Nein beantwortet. Die Punktzahl auf der Skala repräsentiert die Anzahl der positiven Antworten. Eine höhere Punktzahl deutet auf einen größeren psychologischen Notfall hin. Eine Punktzahl über 10 ist ein Anzeichen für den Bedarf an psychologischer Behandlung. 

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