Libanon: Prekäre Lebensbedingungen machen den Alltag im Flüchtlingslager zum Überlebenskampf

Bourj el-Barajneh, Liban 2010

7 Min.

Seit Ende 2008 betreibt MSF ein Projekt für mentale Gesundheit im Flüchtlingslager Burj el-Barajneh im Libanon. Während der letzten zwei Jahre wurden im Rahmen des Projekts über 1'000 Palästinenser und Libanesen behandelt. Das auf Gemeindeebene integrierte Programm verfolgt das Ziel, psychiatrische und psychologische Betreuung mit sozialer Unterstützung zu verbinden und dadurch die mentale Gesundheit zu fördern.

Millionen palästinensischer Flüchtlinge leben immer noch in Lagern, wo sie – über sechzig Jahre nach der Flucht aus ihrer Heimat – mit einem nicht enden wollenden Exil konfrontiert sind. Im Libanon sind mehr als 200'000 palästinensische Flüchtlinge registriert. Rund die Hälfte von ihnen lebt in Lagern, von denen es landesweit ein Dutzend gibt. Nach Angaben des UNRWA sind etwa sechzig Prozent der palästinensischen Flüchtlinge arbeitslos. Etwa gleich viele von ihnen leben unter der Armutsgrenze.
Das Lager Burj el-Barajneh liegt eingepfercht zwischen dem Flughafen und den südlichen Vororten von Beirut und ist die am dichtesten bevölkerte Gegend der Hauptstadt. Rund 18'000 Menschen leben hier auf einer Fläche von einem Quadratkilometer.
Bei der Gründung des israelischen Staates 1948 wurden Hunderttausende Palästinenser ins Exil getrieben. Das Lager Burj el-Barajneh war vom damaligen Roten Kreuz errichtet worden und nahm vor allem Flüchtlinge aus Galiläa auf. Seither ist die Bevölkerung des Lagers stetig angewachsen, durch die Ankunft von weiteren Migranten aus anderen Gegenden des Libanons sowie durch Flüchtlinge aus Syrien, Ägypten und Irak.

Auf Gemeindeebene integriert

Das gemeindebasierte Projekt für mentale Gesundheit von MSF wurde im Dezember 2008 ins Leben gerufen und bietet als einziges kostenlose Beratung im Flüchtlingslager und in der Umgebung an. Die Dienste werden unter anderem innerhalb der wichtigsten Gesundheitseinrichtungen im Lager angeboten, so auch bei der Gesellschaft des Palästinensischen Roten Halbmonds (PRCS) und dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA). Dadurch dass Tabus im Zusammenhang mit Themen der mentalen Gesundheit gebrochen wurden und indem individuelle Unterstützung angeboten wird, beginnen die Menschen sich zu öffnen und über ihr Leid zu sprechen. Ein Team aus internationalen, libanesischen und palästinensischen Mitarbeitern bietet psychologische, psychiatrische und soziale Unterstützung an für die Schwächsten, unabhängig von deren Geschlecht, Nationalität, religiöser oder politischer Zugehörigkeit. In den Jahren 2009 und 2010 nahmen mehr als 1'000 Patienten psychologische und psychiatrische Beratung von MSF in Anspruch; bei 60 Prozent handelte es sich um palästinensische und libanesische Frauen im Alter von 25 bis 40 Jahren.
Das Leben vieler Lagerbewohner ist durch anhaltende Kriege und Konflikte nachhaltig erschüttert worden. Ihre Zukunftsaussichten sind trostlos, die Arbeitslosigkeit ist weit verbreitet und die meisten leiden unter schwierigen Lebensbedingungen sowie einer prekären sozioökonomischen Situation. Unter diesen Umständen sind Depressionen häufig. Rund ein Drittel der behandelten Patienten ist davon betroffen. Weiter treten Angstgefühle (bei 22 Prozent der Patienten), Psychosen (14 Prozent), bipolare Störungen (10 Prozent) und Persönlichkeitsstörungen (10 Prozent) auf.
„MSF strebt stets einen gemeindebasierten und multidisziplinären Ansatz an“, sagt Pierre Bastin, Berater für mentale Gesundheit von MSF in Genf. „Das bedeutet, dass wir uns nicht darauf beschränken, Medikamente zu verschreiben, sondern versuchen, eine sogenannte bio-psycho-soziale Betreuung zu bieten. Da die Ursachen des Leidens biologischer, psychologischer und sozialer Natur sind, muss auch die Behandlung alle drei Ebenen abdecken. Konkret heisst das, dass der biologische Faktor durch den Psychiater mit der Abgabe von Medikamenten behandelt wird, während der psychologische Aspekt durch den Psychologen und eventuell in Zusammenarbeit mit Angehörigen angegangen wird. Und schliesslich müssen auch soziale Faktoren berücksichtigt werden, um die Genesung der Patientinnen und Patienten zu unterstützen.“

Die anhaltenden Folgen des Kriegs

Obschon der Libanonkrieg von 2006 der Vergangenheit angehört, sind seine Auswirkungen immer noch spürbar. Während des Konflikts, wie MSF besorgt feststellte, hätte jede sechste Person dringend psychologische Hilfe benötigt – in einem Land, wo die Versorgung in Bezug auf mentale Gesundheit äusserst eingeschränkt ist. Gemäss einer landesweiten Studie, die 2006 in der medizinischen Fachzeitschrift Lancet veröffentlicht wurde, sind psychische Beschwerden im Libanon nicht häufiger als in Westeuropa. Die Anzahl der Menschen, die nicht behandelt werden, ist jedoch im Libanon um ein Vielfaches höher als im Westen. Das libanesische Gesundheitssystem wird vom privaten Sektor dominiert und Behandlungen sind deshalb teuer. Psychologische Betreuung gibt es in erster Linie für Kinder, während Erwachsene – insbesondere Flüchtlinge – kaum Zugang zu einer Behandlung haben, die sie so dringend bräuchten.
Fabio Forgione, MSF-Einsatzleiter im Libanon, sagt: „Die Leute, die wir mit unserem Programm erreichen möchten, sind palästinensische Flüchtlinge im Lager Burj el-Barajneh. Die prekären Lebensbedingungen machen den Alltag hier zum Überlebenskampf. Hauptgrund ist, dass Burj el-Barajneh eines der am dichtesten besiedelten und sozial am stärksten benachteiligten Lager im Libanon ist. Trotz geringfügigen Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt seit einer Gesetzesverordnung, die vom libanesischen Parlament am 17. August 2010 genehmigt wurde, bleibt die Lage der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon prekär. Noch immer gelten restriktive Richtlinien, die der Gemeinschaft der palästinensischen Flüchtlinge den Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung, Arbeit, Sozialeinrichtungen und Wohneigentum fast gänzlich verwehren. Dies alles hat gravierende Auswirkungen auf die emotionale Stabilität der Menschen, und es besteht daher ein grosser Bedarf an psychologischer Unterstützung.“

Prekäre Lebensbedingungen

Die Bewohner von Burj el-Barajneh kamen meist aufgrund einer schwierigen ökonomischen, politischen oder sozialen Situation ins Lager. Einige verliessen ihre Heimat vor mehr als sechzig Jahren, andere sind eben erst angekommen. Die Belastung, die das Leben in solch einem Umfeld mit sich bringt, verstärkt das Gefühl von Isolation, das so mancher Lagerbewohner von früher kennt. „Das Leben hier ist ein täglicher Kampf. Soziale Ausgrenzung, gepaart mit den äusserst schlechten Lebensbedingungen, steigert den Grad an Unsicherheit massgeblich und setzt viele Flüchtlinge einem schrecklichen, traumatischen und entmutigenden Alltag aus“, sagt Fabio Forgione. „MSF hat sich für die Behandlung der Zielgruppe der Erwachsenen entschieden, da diese in der Vergangenheit wiederholt traumatischen Erfahrungen wie Konflikt und Vertreibung ausgesetzt waren. Ihre Grundrechte wurden missachtet und sie mussten lernen, mit den dauerhaft schwierigen Umständen zurechtzukommen. Auf diesem Hintergrund hat der multidisziplinäre Ansatz des MSF-Teams schon viel bewegen können und wird dies auch weiterhin tun: Nebst der psychischen Gesundheitsversorgung vermittelt MSF soziale, rechtliche und wirtschaftliche Unterstützung aus einem breiten Netzwerk an Partnerorganisationen. So werden die Patienten dazu befähigt, die Ursachen ihres Leidens anzugehen.“
Im Lager gibt es nur wenige Stunden am Tag fliessendes Wasser und Strom. Trotz der Wasserknappheit sind die Gassen oft überflutet, weil die Entwässerungsanlagen unzureichend sind und Wasserüberschüsse aus Tanks und von Hausdächern nicht abfliessen können. Verhedderte Stränge elektrischer Kabel hängen zwischen Häusern herunter und ein Zimmer wird im Durchschnitt von vier Personen bewohnt. Die Probleme dieses dichten Wohnens werden durch Regen im Winter und sengende Hitze im Sommer noch verschärft.

Keine Gesundheit ohne mentale Gesundheit

Eine gute seelische Verfassung ist die Grundlage für das Wohlergehen sowohl des Einzelnen wie auch der ganzen Gesellschaft. Die medizinischen Teams von MSF bieten Pflege und soziale Unterstützung durch Hausbesuche sowie durch Beratungen in der MSF-Klinik. Immer mehr Personen nehmen die Dienste der auf mentale Gesundheit spezialisierten Klinik in Anspruch. Daneben gewährleistet MSF, dass die psychologische Betreuung auch in die medizinische Grundversorgung integriert wird, die in Gesundheitseinrichtungen im ganzen Lager angeboten wird. Dieser Ansatz trägt dazu bei, dass eine gute seelische Verfassung als wesentlicher Bestandteil der allgemeinen körperlichen Gesundheit erachtet wird; denn sie hat Einfluss darauf, wie Menschen sich verhalten, die Welt wahrnehmen und mit anderen interagieren. Seit Projektbeginn hat das psychologische und psychiatrische Personal von MSF in Burj el-Barajneh 8'023 Beratungen durchgeführt und 1'160 Patienten behandelt.

Palästinensische Flüchtlinge: Von der Gesellschaft ausgeschlossen

Beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) sind 4,7 Millionen palästinensische Flüchtlinge registriert. Die Organisation wurde gegründet, um ihnen Hilfe zu leisten. Als palästinensische Flüchtlinge gelten jene Menschen, die unter britischem Mandat in Palästina gelebt und die ihre Häuser und ihre Lebensgrundlage im Zuge des arabisch-israelischen Konflikts 1948 verloren haben, sowie deren Nachkommen. Da der libanesische Staat sich weigert, die Flüchtlingskonvention von 1951 zu unterzeichnen, haben palästinensische Flüchtlinge im Libanon keinerlei Rechtsschutz. Zudem bleibt ihnen die Ausübung von über zwanzig Berufen gesetzlich verwehrt, darunter die Tätigkeit als Arzt, Anwalt, Ingenieur und Buchhalter. Ihre Sozial- und Bürgerrechte sind im Libanon nicht existent und ihr Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung und Bildung ist eingeschränkt. Die überwiegende Mehrheit der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon ist in Belangen der Bildung, Gesundheit und der Sozialeinrichtungen auf das UNRWA angewiesen.