Libyen: „Die Spitäler sind voller Verwundeter“
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Drei Mitarbeiter von MSF befinden sich derzeit in Tripolis. Sie beginnen damit, medizinisches Material an die Spitäler zu liefern. Die Einrichtungen sind als Folge der Kämpfe in der libyschen Hauptstadt mit Verwundeten überfüllt. Der Einsatzleiter von MSF, Jonathan Whittall, beschreibt die Lage vor Ort.
Wie ist die Situation im Moment?
Wir haben es in Tripolis mit Gesundheitseinrichtungen zu tun, in denen die Lage bereits vor den Kämpfen dieser Woche sehr angespannt war. Den Spitälern fehlt es an Personal, weil viele ausländische Pflegefachleute und Ärzte, die hier gearbeitet haben, aus Libyen geflohen sind. Zudem gibt es wegen der Sanktionen, die gegen Libyen verhängt wurden, Engpässe bei Medikamenten und medizinischem Material. Das Gesundheitssystem hatte schon Schwierigkeiten, die Verwundeten zu versorgen, die von ausserhalb von Tripolis eingeliefert wurden.
In den vergangenen drei Wochen haben sich die Teams fast ausschliesslich auf Notfälle konzentriert und waren nicht mehr in der Lage, andere medizinische Probleme der Bevölkerung, wie chronische Krankheiten, zu behandeln oder Kaiserschnitte vorzunehmen. Das lag einfach nicht mehr drin. Wenn man nun bedenkt, dass erneute Kämpfe direkt in der Stadt ausgebrochen sind – und sie waren in einigen Vierteln äusserst heftig –, dann stehen wir vor einer Situation, in der bereits überlastete Spitäler mit einem starken Zustrom von Verletzten konfrontiert sind und schlicht nicht die notwendige Unterstützung in Form von Personal und medizinischem Material erhalten.
Wie ist die Situation in den Spitälern, die Sie besuchen konnten?
In praktisch allen Spitälern in der Stadt werden Verwundete eingeliefert. Aber einige Kliniken waren wegen der Kämpfe nicht zugänglich – die übrigen Einrichtungen mussten also noch mehr Verwundete versorgen. Jetzt, wo sich die Lage in der Stadt allmählich entspannt, können sich die Spitäler auch um die Patienten kümmern, die es bislang nicht zu ihnen geschafft haben. Das betrifft jene, die in den vergangenen Tagen verwundet wurden, aber auch Verletzte, die bisher Angst hatten, auf die Strasse zu gehen, und andere Notfallpatienten.
In den Spitälern, die ich seit dem Beginn der Auseinandersetzungen besucht habe, spielten sich oft chaotische Szenen ab. Viele Ärzte und Pflegefachleute schafften es nicht bis in die Klinik, da sie in Vierteln leben, die noch nicht sicher waren, oder sie nicht quer durch die Stadt fahren konnten. Es gibt einen Mangel an Medizinern in den Einrichtungen, aber es gibt auch eine grosse Zahl Freiwilliger, die in die Spitäler kommen, um zu helfen, wo sie können. Aber das alles schafft ein sehr chaotisches Umfeld.
Die Spitäler, die ich besucht habe, sind voller Verwundeter – sowohl in der Notaufnahme als auch in anderen Abteilungen. Die meisten von ihnen haben Schussverletzungen. In einer der Einrichtungen haben sie einige Häuser neben der Klinik in eine stationäre Abteilung umgewandelt. In einem dieser Häuser lagen die Patienten auf dem Boden und auf Tischen – das Haus war in eine provisorische Krankenstation umgewandelt worden. Aber weil Personal fehlte, gab es auch keine Pflegende und die Patienten mussten im Wesentlichen für sich selbst sorgen. In einer anderen Einrichtung warteten Verletzte im Freien vor dem Spital, um in die Notaufnahme zu kommen.
Gibt es ausser den Kämpfen noch andere Hindernisse für die medizinische Hilfe?
Die Krankenwagen sind mit dem massiven Treibstoffmangel in Tripolis konfrontiert. Aus Tunesien kommt noch kein Benzin und kein Diesel. Dies ist ein grosses Problem, weil der Strom oft ausfällt. Deshalb werden Generatoren eingesetzt, um die Spitäler zu betreiben, aber sie haben sehr begrenzte Treibstoffreserven.
Wie wird MSF auf die Situation reagieren?
Die medizinische Situation erfordert eine sehr schnelle Reaktion. Deshalb bringen wir weitere Teams und medizinisches Material nach Tripolis. Es sind schon zwei Mitarbeiter mit einer Lieferung angekommen, weitere werden morgen ankommen. Wir werden sofort damit beginnen, die Spitäler zu unterstützen. In einigen Teilen der Stadt wird immer noch gekämpft – das wird auf jeden Fall Auswirkungen auf den medizinischen Bedarf in der Stadt haben.
Die medizinischen Einrichtungen stehen unter starkem Druck, aber sie sind keineswegs völlig zusammengebrochen. Das Gesundheitspersonal behandelt die Verletzten, aber sie stehen natürlich vor massiven Herausforderungen. Das ist keine Frage ihrer Kompetenz oder ihrer Bereitschaft. Es geht darum, wie man dem äusserst dringenden und massiven Bedarf an medizinischer Hilfe, mit dem sie konfrontiert sind, begegnen kann.
Hat die Intensität der Kämpfe nachgelassen?
Nun ist es ruhiger. Vor drei Tagen hätte ich aufgrund der ständigen Geschützfeuer draussen dieses Telefongespräch nicht führen können. Die Tatsache, dass ich heute so telefonieren kann, ohne mich hinter einer Wand verstecken zu müssen, ist ein Fortschritt.
Die Lage ändert sich aber ständig. Das geht nun seit vier Tagen so, und ich weiss nicht, wo ich beginnen soll, die Veränderungen zu beschreiben, die ich seither in Tripolis gesehen habe. Alles ging extrem schnell, die Art und Weise, in der die Gewalt in Tripolis ausgebrochen ist, und die Art und Weise, in der sich die Stadt nun verändert. Wir müssen extrem wachsam bleiben und sehen, wie sich die Lage in den nächsten Tagen verändert.
Von einem der Spitäler, zu dem wir aufgrund der anhaltenden Kämpfe keinen Zugang hatten, haben wir von einer kritischen Lage gehört: Patienten, die die Klinik aufgrund der Kämpfe in der Umgebung nicht erreichen konnten, konnten daher nicht behandelt werden. Es ist in den nächsten Tagen absolut unerlässlich, dass alle Spitäler für Patienten zugänglich sind. Dem Gesundheitspersonal muss es möglich sein, sich in die medizinischen Einrichtungen zu begeben, und die Unversehrtheit dieser Strukturen muss von allen beteiligten Konfliktparteien respektiert werden.
MSF ist eine internationale medizinische Hilfsorganisation, die seit dem 25. Februar 2011 in Libyen tätig ist. Um die Unabhängigkeit ihrer medizinischen Arbeit gewährleisten zu können, finanziert MSF ihre Hilfe in Libyen ausschliesslich mit privaten Spendengeldern und nimmt keinerlei Regierungsgelder, Geld von Institutionen oder von militärischen oder politischen Gruppierungen an. Derzeit besteht das Team von MSF in Libyen aus 44 libyschen und 30 internationalen Mitarbeitern und leistet in den Städten Tripolis, Misrata, Slintan, Jafran und Bengasi medizinische und chirurgische Hilfe, psychologische Betreuung und versorgt diese Städte auch mit Medikamentenvorräten.