Mangelernährung: eine gemeinschaftliche Herangehensweise
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In Magaria, einem Dorf in Niger an der Grenze zu Nigeria, werden zurzeit im Zentrum für intensive therapeutische Ernährung des lokalen Spitals 240 Kinder stationär behandelt; das Zentrum ist nah daran, überlastet zu sein. „Eine vernünftige Behandlung einer so grossen Anzahl von Kindern, die häufig in einem entmutigenden Zustand ankommen, ist eine fast unlösbare Aufgabe“, erklärt Dr. Claude Ngobe, medizinischer Leiter von MSF im Niger. „Um die Anzahl der Kinder im Spital zu begrenzen, müssen wir deshalb die Früherkennung von mangelernährten Kindern in den Dörfern verstärken.“ MSF hat sich darum entschieden, in einem der Gesundheitsbezirke besonders eng mit den Dorfgemeinschaften zusammenzuarbeiten, um den katastrophalen Folgen von Mangelernährung bei Kleinkindern vorzubeugen.
Wir befinden uns im Dorf Bakadougou des Bezirks Magaria in Niger: Harouna Yaou, der junge Dorfchef, empfängt an diesem Morgen Amadou Roufai, den nigrischen Aufseher des Gemeinschaftsprogramms von MSF und seine brasilianische Kollegin, die Krankenschwester Renata Oliveira Sila. Er lädt das Team ein, sich in den Schatten des Mangobaumes auf aus von der nahe gelegenen Moschee herbeigeschaffte Matten zu setzen. Bald haben sich Kinder, Frauen und viele ältere Männer zur Gruppe hinzugesellt.
Das kleine MSF-Team war früh morgens von der Stadt Magaria aufgebrochen um sich für diese Besprechung nach Bakadougou zu begeben. Bakadougou ist eines der 85 Dörfer des Gesundheitsbezirks von Dan Tchiao, der etwa 55'000 Einwohner zählt. Auf dem Weg dorthin haben sie in Dan Tchiao Halt gemacht, um im dortigen ambulanten Ernährungszentrum einige Kartons der therapeutischen Nahrungsmittels „Plumpy Nut“* abzugeben.
Trotz der Tatsache, dass die Region die ersten beiden Regenfälle des Jahres bereits hinter sich hat, ist die Strasse zwischen den Dörfern noch passierbar, und der Geländewagen kann sich ohne Zwischenfall durch die Gruppen von Rundhütten der Fulbe-Viehhirten in Richtung Bakadougou schlängeln. Wie überall in der Region kündigt die Präsenz von solchen die Hütten die Nähe eines von Haussa-Bauern bewohnten Dorfs an.
„Alle müssen wissen, dass die Behandlung kostenlos ist“
Der Besuch von Amadou und Renata ist sowohl für MSF als auch für das Dorf wichtig. Zunächst untersucht das Team, ob es im Dorf mangelernährte Kinder gibt. Dafür wird sich das Team in die „Medizinhütte”** begeben, wo es bereits erwartet wird. Aber zuerst möchten Amadou und Renata die Anwesenheit der Dorfbewohner nutzen, um lokale Mitarbeiter anzuwerben. „Ihr werdet dafür verantwortlich sein, die Mütter zu warnen, wenn ihre Kinder Anzeichen von Mangelernährung aufweisen“, erklärt Amadou gegenüber den Anwärtern, zwei jungen Männern und einer Frau. „Ihr sorgt dafür, dass die Mütter auch wirklich in die „Medizinhütte“ gehen. Alle müssen wissen, dass die Behandlung für Kinder unter fünf Jahren kostenlos ist und dass die Mütter dort wirklich Medikamente bekommen können...“.
MSF hat sich verpflichtet, dafür zu sorgen, dass diese wesentlichen Medikamente in allen Gesundheitseinrichtungen des Gebiets, wo die Organisation arbeitet, verfügbar sind. Theoretisch ist die Behandlung von Kindern unter fünf Jahren im Niger kostenlos. Aber die Umsetzung dieser Regelung stösst auf viele, sehr reale Schwierigkeiten: Es fehlt unter anderem an geschultem und bezahltem Gesundheitspersonal sowie an Medikamenten.
Die Tatsache, dass die Bevölkerung keine Gesundheitsdiensten besucht oder besuchen kann führt in dieser Region des Nigers zu ernsthaften Problemen. Eine jüngste Untersuchung hat zum Beispiel gezeigt, dass in acht von zehn Todesfällen von Kindern unter fünf Jahren die Kinder zu Hause gestorben sind. Jedes Dritte wurde nie in eine Gesundheitseinrichtung gebracht.
Zweifelsohne wird das kostenlose Angebot von Medikamenten durch MSF für den Erfolg des Programms entscheidend sein, selbst wenn dieses wesentliche Kosten verursacht. „Es ist wichtig, die Mütter davon zu überzeugen, zum Gesundheitsposten zu kommen. Aber um nicht entmutigt zu werden müssen sie dort auch eine Lösung für ihre Probleme finden, was wiederum die Präsenz von geschultem Personal und Medikamenten voraussetzt. “ erklärt Renata. „Wir werden zeigen können, wie effizient diese neuen Massnahmen sind“, fügt sie hinzu.
Die Getreidespeicher sind leer
Das Team trifft sich mit den zukünftigen lokalen Mitarbeitern in der „Gesundheitshütte“ um eine Schulung durchzuführen. Diese Hütte ist ein kleines Gebäude mit zwei Räumen, das von MSF gerade saniert wurde. Es steht am Dorfrand, und auf dem Weg dorthin muss das Team vorsichtig sein um die jungen Hirsepflänzchen, die nach den ersten Regenfällen zu spriessen begonnen haben, nicht zu beschädigen. „Das Gesundheitsangebot ist nicht umfangreich, aber wenigstens gibt es hier eine Krankenschwester“, sagt Renata und begrüsst gutgelaunt Aichatou, die Krankenschwester des Postens.
In der Hütte warten bereits zwei Müttern mit ihren Kindern die beide an Fieber leiden. Eines der Kinder ist bereits stark mangelernährt. Die junge Mutter erklärt, dass die Vorratskammern in ihrem Dorf, das einige Kilometer entfernt ist, leer sind. Die Männer kommen gerade aus Nigeria heim, wo sie seit der letzten mageren Ernte gearbeitet haben. Nun sind sie auf den Feldern und man muss bis zur nächsten Hirse- und Sorghum-Ernte bis September warten -- vorausgesetzt, es fällt im Juli und August genügend Regen... Die „Tia“ Hirse - etwa 2,5kg - kostet 550 FCFA (fast einen Euro) und das von den Männern bei der Arbeit in Nigeria ersparte Geld ist schnell aufgebraucht.
„Dieses Kind muss heute noch in das Ernährungsprogramm in Dan Tchiao aufgenommen werden“, erklärt Renata. „Wenn wir es nicht dorthin bringen, muss es entweder in Magaria in das Spital überwiesen werden, oder es stirbt. Wir müssen die Mutter davon überzeugen, das Kind in das Ernährungsprogramm zu überweisen.“ Für das andere Kind werden die vom Team mitgebrachten Medikamente ausreichen.
Die Mutter lässt sich ziemlich leicht davon überzeugen, mit ihrem kleinen Kind und seinem grossen Bruder in den Wagen zu steigen. Das Team fährt weiter zu einem zweiten Dorf um auch dort die Kinder auf Mangelernährung zu überprüfen und ein Team von lokalen Mitarbeitern anzuwerben.
Die Arbeit mit den Dorfgemeinschaften funktioniert!
Unter prasselndem Regen ("dem dritten Regen des Jahres", erklärt Amadou) kehrt das MSF-Team am frühen Nachmittag nach Magaria zurück. In einem Dorf musste ein Kind mit schwerer Mangelernährung dringend in das Zentrum für intensive therapeutische Ernährung des Spitals gebracht werden. Auf dem Weg hat das Team ausserdem zwei Kinder, darunter auch das Kind aus Bakadougou, in das integrierte Gesundheitszentrum von Dan Tchiao gebracht. Sie werden dort in die ambulante therapeutische Ernährungsabteilung aufgenommen.
„Man rechnet damit, dass im Laufe dieses Versorgungsengpasses von den 7'000 Kindern unter fünf Jahren in diesem Gesundheitsbezirks etwa 800 an Mangelernährung erkranken werden, “ erklärt Renata. Auf die Frage, wie viele von ihnen trotz allem in das intensive Ernährungszentrum von Magaria eingewiesen werden müssen, antwortet Renata voller Optimismus: „Mit unserer Arbeit in den Dörfern sind es dieses Jahr weniger, das ist sicher. Sie sehen, die Arbeit mit den Dorfgemeinschaften funktioniert. Ich habe es bereits bei mir in Amazonien erlebt, warum also nicht heute im Niger!“
Unterdessen befindet sich das Projekt auf gutem Weg – auch wenn es durch die bald eintretenden heftigen Regengüsse, die den Transport verunmöglichen werden, unter Zeitdruck steht. Die lokalen Mitarbeiter, nahezu 100, sind nun fast alle geschult. Im intensiven Ernährungszentrum von Magaria sind in den vergangenen Tagen mehr Kinder aus den anderen Gesundheitsbezirken angekommen, als aus dem Bezirk von Dan Tchiao. Für das Gemeinschaftsteam ist das ein sehr ermutigendes Zeichen.
* "PlumpyNut" ist eine Marke von von MSF verwendeten gebrauchsfertigen therapeutischen Nahrungsmitteln die zur Bekämpfung von Mangelernährung in Kindern eingesetzt wird.
** Die „Gesundheitshütte“ ist das letzte Glied im öffentlichen Gesundheitssystem in Niger.