Neun Jahre voller Hürden und Hoffnung: Ismails Flucht nach Europa

MSB205111_Ismail_(C)Pierre Fromentin (MSF)MSF

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Als Ismail 2015 sein Heimatland verlassen musste, machte er sich auf der Suche nach Sicherheit auf einen ungewissen und lebensbedrohlichen Weg. In den darauffolgenden Monaten wurde er krank, verhaftet, geschlagen und entführt. Er sah auf seinem Weg Viele, die es nicht geschafft haben. Heute arbeitet er für Ärzte ohne Grenzen als Gesundheitshelfer und hilft anderen geflüchteten Menschen, Zugang zum Gesundheitssystem zu erhalten.

«Ich hatte keine andere Wahl, als zu gehen.» 

Ismail studierte Ingenieurwissenschaften an der Universität, als er die Entscheidung traf, zu gehen. «Ich legte eine Pause von meinem Studium ein, verlor meine Motivation und die Situation in Eritrea wurde immer schlimmer. Wenn du kein Student oder Staatsangestellter bist, wirst du in Eritrea zum Militärdienst gezwungen.»

Asyl im benachbarten Sudan zu beantragen, war keine Option: Dort lebten bereits etwa zwei Millionen geflüchtete Eritreer, viele davon in Geflüchtetencamps – damals wie heute unter katastrophalen Bedingungen. Als einzige Möglichkeit blieb ihm Libyen.

Für jemanden in meiner Lage gibt es keinen legalen Weg vom Sudan nach Libyen. In der Nähe der Grenze wurde ich einen Monat lang von Schleppern festgehalten, bis ich bezahlen konnte. Die Bedingungen waren unmenschlich. Wir waren in einem fensterlosen Raum zusammengepfercht und so viele, dass wir auf der Seite schliefen, wie Sardinen in einer Dose.

Ismail

Geschlagen, krank und entführt – die Flucht aus Libyen

«Ich wurde krank. Ich hatte Kopfschmerzen und konnte nichts essen. Manche meinten, es sei Malaria. Mir wurde gesagt, es sei unmöglich, einen Arzt zu sehen». Auf seinem Weg nach Tripolis war Ismail sehr schwach und konnte kaum stehen, wurde aber trotzdem von Wachen geschlagen und schikaniert. Als ich nicht wieder in den Lastwagen steigen konnte, drohte man mir, mich zu erschiessen. Ich sagte: Mach doch. Ich bin sowieso tot».

Ismail musste eine 12-stündige Fahrt durch die Wüste, versteckt in einem leeren Wassertank, überstehen. «Das war, damit wir nicht entführt werden, was in Libyen ein ständiges Risiko ist. Wir hatten keine Wahl. Wir waren 50 Menschen: Männer, Frauen und Kinder. Es waren mindestens 45°C. Viele mussten sich übergeben oder fielen in Ohnmacht. Und jedes Mal, wenn man die heissen Metallwände des Tanks berührte, verbrannte man sich».

Das Mittelmeer überqueren

Er wartete zwei Wochen auf die richtigen Seebedingungen. Dann ging es mitten in der Nacht los. Es war sein erster Versuch, Europa zu erreichen.

Ich hatte Geschichten über Boote gehört, die gekentert sind, über Menschen, die ertranken. Ich hatte mich darauf vorbereitet. Das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass ich sterben würde. Und sterben war besser, als dort zu bleiben, wo ich war oder umzudrehen.

Ismail

Ein anderes Boot näherte sich ihnen, eine Bande bewaffneter Entführer brachte sie zurück nach Libyen. Ismail musste 1500 Dollar zahlen, um freigelassen zu werden. Von den 350 Menschen, die mit Ismail entführt wurden, konnten 200 bezahlen. Die anderen mussten hungern, wurden gefoltert, geschlagen oder erschossen.

Bei Ismails zweitem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, kenterte das Boot. «650 Menschen zusammengepfercht auf einem Boot. Ich war im Frachtraum: der schlimmste Ort. Es war dunkel, es gab kaum Platz, Menschen fielen in Ohnmacht. Wir benutzten das Satellitentelefon, um Hilfe zu rufen. Ich wusste nicht, was passieren würde. Schlussendlich sahen wir endlich ein Schiff, das auf uns zukam. Es war Ärzte ohne Grenzen».

Nach der Seenotrettung bekamen Ismail und die anderen Passagiere des Bootes trockene Kleidung und medizinische Unterstützung von Ärzt:innen und Pflegefachpersonal. «Es ist schwer zu erklären, wie es sich anfühlte, welche Erleichterung es war. Ich habe auf meinem Weg viele Menschen sterben sehen. Die ganze Zeit war ein Kampf ums Überleben».

Eine neue Hürde

Nachdem Ismail in Süditalien angekommen war, wurde er in ein neues Geflüchtetencamp in Bologna gebracht. Dort wollte er nicht bleiben, die Bedingungen waren sehr hart. Eine Familie, die geflüchteten Menschen helfen wollte, unterstützte Ismail dabei, Kontakt zu seiner eigenen Familie aufzunehmen.

Wir alle trugen die Traumata der Flucht mit uns. Die Last des Geldes, das wir leihen mussten, und die Verantwortung für unsere Familien zu Hause, die auf unsere Hilfe angewiesen waren. Nachdem wir es so weit geschafft hatten, war kaum jemand bereit aufzugeben.

Ismail

Er floh weiter nach Deutschland und Belgien, wo ihm schliesslich Asyl gewährt wurde. Nach sieben Jahren und mehreren Anträgen und Ablehnungen erhielt auch seiner Frau das Visum. In dieser Zeit arbeitete Ismail hart, um die Anwälte, die an ihrem Fall arbeiteten, bezahlen zu können.

Anderen helfen

«Es ist jetzt viel schwieriger geworden, Zugang zu den Diensten zu bekommen, von denen ich 2015 Gebrauch machen konnte. Ich arbeite in einem Projekt von Ärzte ohne Grenzen, das sich hauptsächlich um Menschen kümmert, die von dieser Unterstützung abgeschnitten sind. Menschen, die gezwungen sind, in Camps und Notunterkünften zu leben. Mein Team bietet Menschen psychische und medizinische Betreuung an. Ausserdem helfen wir ihnen mit einem Zugang zur Gesundheitsversorgung sowie Mittel zur Infektionsprävention und -kontrolle».

Ismail lebt seit acht Jahren in Belgien. Er spricht acht Sprachen, die er täglich in seiner Arbeit als Gesundheitshelfer für uns benutzt, um anderen geflüchteten Menschen den Zugang zu Gesundheitsdiensten zu erleichtern.

Ich kenne Tausende Menschen wie mich: Ich musste einen Ausweg aus einer sehr schwierige Situation finden. Seit ich hier bin, arbeite ich meistens sieben Tage die Woche. Geflüchtete Menschen tragen zur Wirtschaft und Entwicklung des Landes bei. Wir wollen uns einfach nur, wie jeder andere auch, eine Zukunft aufbauen.

Ismail