Syrien: „Die Kinder hier sammeln nicht Murmeln, sondern Patronenhülsen von Kalaschnikows.“
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Loïc Jaeger hat kürzlich als Projektverantwortlicher zwei Monate in einem der drei Spitäler in Syrien verbracht, die MSF im Norden des Landes im Verborgenen betreibt.
Er zieht Bilanz über die humanitäre Situation und die Entwicklung der Aktivitäten von Médecins Sans Frontières / Ärzte ohne Grenzen (MSF).
Wie ist die humanitäre Lage zwei Jahre nach der Krise?
Die Lage ist verheerend, und die humanitäre Hilfe ist ganz klar nicht ausreichend. Im Allgemeinen konzentrieren sich die paar humanitären Helfer, die im Norden Syriens präsent sind, auf die Chirurgie, aber die medizinischen Bedürfnisse sind enorm und reichen viel weiter. Dazu muss man wissen, dass die Menschen vor dem Krieg dort ein normales Leben auf einem relativ hohen Standard führten. In der Grenzregion zur Türkei, in der wir arbeiten, hat es zahlreiche Villen, die der Stadtbevölkerung als Sommerresidenzen dienten. Die Kinder gingen zur Schule, und wenn man fliessend Wasser brauchte, drehte man einfach den Hahn auf.
Seit Monaten gibt es nun weder Strom noch fliessend Wasser mehr, und die Leute mussten dem strengen Winter ohne Heizung trotzen. Man hat den Holzofen wiederentdeckt: In jedem Haus wurde ein Loch in die Wand gebrochen, um ein Cheminée einzurichten. Die Menschen in der grossen Stadt in der Nähe versuchen zu fliehen, und zahlreiche Bewohner reisen mit praktisch nichts ab, als ob sie Verwandte besuchen gingen. Zuerst hatten sie sich in verlassenen Häusern eingerichtet, aber heute gibt es immer mehr Zeltstädte. Deshalb haben wir damit begonnen, Decken zu verteilen.
Rund 20 Kilometer von unserem Spital entfernt hat es eine Stadt mit 150'000 Einwohnern mit mehreren Spitälern, darunter ein öffentliches mit modernster Ausstattung, wie in unseren Ländern. Weil sich die Frontlinie verschoben hat, sind diese Spitäler nun unerreichbar. Darüber hinaus ist das Benzin, das früher vom Staat subventioniert wurde, unerschwinglich geworden, was das Reisen noch mehr erschwert. Die Zivilbevölkerung befindet sich also eigentlich in Geiselhaft. Sie hat keine Erfahrung mit derartigen Konflikten und kennt die Überlebensmechanismen in solch schwierigen Situationen nicht. Niemand hier war darauf vorbereitet.
Wie passen die Teams von MSF ihren Einsatz nun an, nachdem sie sich auf die Kriegschirurgie und die Soforthilfe konzentriert hatten?
Chirurgische Eingriffe machen nach wie vor einen wichtigen Teil unserer Arbeit aus, da die Zivilbevölkerung praktisch jeden Tag bombardiert wird. Ich erinnere mich an einen Mann, der völlig aufgelöst war, weil seine Frau durch eine Granate entstellt worden war. Und dies nur, weil sie die Wäsche zur falschen Zeit am falschen Ort aufgehängt hatte. Wir haben im Durchschnitt einen Verletzten pro Tag, aber wenn eine Bombe in ein stärker besiedeltes Gebiet fällt, sind es 30, und bei einem grossen Gefecht 80.
Da immer mehr Vertriebene ankamen, haben wir auch externe Beratungen organisiert, die es uns erlaubten, andere Bedürfnisse auszumachen, wie zum Beispiel die Behandlung von chronischen Krankheiten.
Wir haben uns generell entschieden, unsere Aktivitäten auszuweiten, vor allem im Bereich der Betreuung der werdenden und jungen Mütter und der seelischen Gesundheit.
Welchen Schwierigkeiten sind die schwangeren Frauen ausgesetzt?
Früher setzte sich eine schwangere Frau in ihr Auto und erreichte das Spital innert 20 bis 30 Minuten. Sie machte während der Schwangerschaft drei Ultraschalluntersuchungen und entband im Beisein von Spezialisten. Als wir in der Gegend ankamen, hatten die gebärenden Frauen nicht viele Möglichkeiten: Sie mussten zu Hause gebären oder versuchen, die Grenze zu Fuss oder mit einem Schlepper zu passieren.
Daher haben wir uns entschieden, die vorgeburtlichen Untersuchungen im Rahmen unserer mobilen Spitäler durchzuführen und in unserem Spital eine Entbindungsstation zu eröffnen. Die Anzahl Geburten ist in eineinhalb Monaten von zwei pro Woche auf zwei pro Tag angestiegen. Es ist sehr speziell, dass man nun 12 Meter von gebärenden Frauen entfernt Verwundete pflegt und Kinderleichen entgegennimmt. Für uns ist es eine Art Erleichterung: Es gibt auch Leben. Das ist die Kraft unseres Projekts.
Wie war die Nachfrage in Bezug auf die seelische Gesundheit?
Wegen der Gewalt stehen die Menschen unter hohem Druck und bewegen sich in einem Klima des allgemeinen Argwohns. Viele haben ihre Häuser und Angehörige verloren. Viele Menschen haben Angstzustände. Die Kinder gehen nicht mehr zur Schule, sie sehen dauernd bewaffnete Männer und Verletzte. Das ist ihre neue Realität. Bei externen Konsultationen haben wir viele ratlose Mütter empfangen, die uns von psychosomatischen Problemen ihrer Kinder erzählten.
Als wir auf lokaler Ebene erwähnten, Aktivitäten im Bereich der seelischen Gesundheit zu lancieren, zeigten sich alle daran interessiert. Die Menschen verstehen gewisse familiäre Konflikte nicht, die durch die Abwesenheit des Vaters hervorgerufen wurden, der sie verliess um zu kämpfen, oder das Verhalten der Kinder, die zum Beispiel wieder ins Bett machen. Nun sammeln die Kinder nicht mehr Murmeln, sondern Patronenhülsen von Kalaschnikows …
Was befürchten Sie für die nächsten Monate?
Im Moment schränkt die winterliche Kälte das Reisen ein: Offenbar bewegen sich die Menschen nur, wenn sie sicher sind, dass sie in einem Haus oder einem Zelt Unterschlupf finden. Wenn es wärmer wird, wird auch das Reisen wieder zunehmen, und es werden Menschen von weit her kommen. Es könnte immer mehr Zeltstädte geben. In einem Dorf, das aus 50 Familien bestand, hat es heute deren 500. Im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit von weiteren Vertriebenen spricht man von einem Lager mit zusätzlichen 1’000 Zelten, was insgesamt 1’500 Familien entsprechen würde. Mit der Trockenheit des Sommers werden dann die Wasserversorgung und die Abwasserentsorgung zu Problemen. Wenn man sich schliesslich in diesem Konflikt weiterhin nicht um die Zivilbevölkerung kümmert, werden auch die regelmässigen Zuströme von zivilen Opfern der Bombardements nicht abnehmen.
Wie steht es um die Solidarität innerhalb der Bevölkerung?
Die Solidarität unter den Syrern ist sehr gross: Wenn zum Beispiel die Lokalbevölkerung Haus und Nahrung mit den Vertriebenen teilt, ohne dafür einen Ausgleich zu erhalten. Im Dorf, in dem wir wohnen, hat es keinen Strom und darum auch kein Wasser mehr. Der Gemeindegenerator ist kaputt, und es ist unmöglich, Ersatzteile aufzutreiben. Nun hat unser Nachbar dem ganzen Dorf seinen Generator und seine Pumpe zur Verfügung gestellt, gegen das Benzin, das für den Betrieb nötig ist. Viele kommen auch freiwillig, um den Verletzten zu helfen. Dann wird ein Zahnarzt plötzlich zum Chirurgen, ein Mann, der mit 15 Jahren Erste Hilfe gelernt hat, zum Pfleger … Die Grosszügigkeit der Menschen ist bemerkenswert.