Tausende Zivilisten sitzen in Ituri in der Falle
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Seit Ende 2009 waren sie zwischen Soldaten und bewaffneten Gruppen im Süden der Provinz Ituri in der Demokratischen Republik Kongo eingeschlossen. Schliesslich gelang einem Teil dieser tausenden, entkräfteten Zivilisten die Flucht. In kleinen Gruppen schlichen sie sich über die Grenze und erreichten zu guter Letzt Gety und Aveba, kleine Dörfer mitten im Gebiet der Region Irumu. Dort leistete ihnen MSF medizinische Nothilfe. „Die meisten von ihnen waren am Ende ihrer Kräfte und völlig ausgehungert, als wir sie in Empfang nahmen“, erklärt Laurence Gaubert, die Einsatzleiterin von MSF in der D.R. Kongo. „Und wir befürchten das Schlimmste für jene, die weiterhin an der Grenze blockiert sind. Dort erhalten sie keinerlei Hilfe.“
In der Provinz Ituri ziehen sich sanfte, grüne Hügel südlich der Stadt Bunia am grossen Albertsee entlang und markieren die Grenze mit dem Nachbarland Uganda. Die Erde ist dort fruchtbar: sowohl im Osten in der Hochebene des Similiki, der den tiefblauen Albertsee speist, als auch bei Tchey, am Rande der riesigen Wälder im Westen. In dieser Region, die so reich sein könnte, leben nicht nur die friedlichen Bauern der Ngity-Ethnie. Denn die Region ist reich an wertvollen Bodenschätzen, die viel Gier geweckt und zu unermesslichen Gewalttaten geführt haben.
Hier in diesen Hügeln entstand somit grösstenteils auch der traurige Ruf von Ituri als „Heimat der Gewalt“. „Für die meisten Leute in Kinshasa ist allein das Wort Ituri angsteinflössend. Meine Familie geriet komplett in Panik, als ich zu Hause angekündigt habe, dass ich hierher komme, um die Lage im allgemeinen Krankenhaus zu prüfen. Sie haben alle versucht, mich davon abzubringen, hierher zu kommen.", hat uns in Bunia, ein junger Arzt der Organisation „Ärzte Afrikas“ anvertraut, der gerade aus der Hauptstadt ankam.
„Ituri hat sich von seinen Dämonen nicht befreien können“
Nach der blutigen und äusserst konfliktreichen Zeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts, herrscht in Ituri auch heute noch permanent Unsicherheit. Sie drückt sich in Gewalttaten der einen oder anderen Gruppe gegen die Zivilbevölkerungen aus, die dieser nicht enden wollender Gewalt leid sind. „Im Gebiet von Irumu ist ein Grossteil der Bevökerung umgesiedelt“, erklärt Elsa Moulin, die Koordinatorin von MSF in Gety, wo die Organisation das Krankenhaus und verschiedene Gesundheitszentren unterstützt. „Die Menschen lassen die vorherrschende Gewalt weiterhin in einer Art allgemeiner Gleichgültigkeit über sich ergehen“, fügt sie hinzu. „Erst wenn Ereignisse wie diese hier stattfinden, wird Aussenstehenden klar, dass Ituri seine Dämonen noch nicht bewältigt hat.“
Die jüngsten Gewaltausbrüche haben im vergangenen Dezember begonnen. In einer Offensive hat die reguläre Armee die Unterstände von Milizen der Regionen von Poto-Poto und Tchey angegriffen. Darauf folgten ebenso viele Gegenoffensiven in deren Verlauf tausende Zivilisten eingekesselt wurden. „Sie hatten folgende Wahl“, fährt Elsa Moulin fort. „Entweder eine lebensgefährliche Flucht wagen oder oder sich monatelang verstecken und dabei fast verhungern.“ Papa Kinzo war Bauer in Oku, einem Dorf in der fruchtbaren Zone von Poto Poto, ganz in der Nähe des Waldes. Er hat sein schwer krankes Kind zur Sprechstunde der mobilen Klinik gebracht, die MSF am vergangenen 23. März in Ozoba aufgebaut hatte. Er ist nur mit knapper Not entkommen: „Am 7. Dezember haben uns die Soldaten aus den Dörfern verjagt. Danach war es unmöglich heimzukehren, um Nahrungsmittel zu holen. Die Felder wurden sofort von den bewaffneten Männern besetzt. Sie schossen, sobald sie irgendwo einen Kopf hervorschauen sahen. Das ist so, weil es in diesem Buschland Milizsoldaten gibt, die sich unter uns mischen. Seit 2001 werden wir so gejagt
„Sie haben vier Tage bis Ozoba gebraucht“
Nach der zweiten Offensive Anfang März überschlugen sich die Ereignisse. Die alarmierenden Neuigkeiten drangen bis nach Gety durch: Unüberprüfbare Gerüchte über Zivilisten kursierten, die einfach nur deswegen getötet worden seien, weil sie etwas zu Essen für ihre Familie auftreiben wollten. „Wir haben die ersten Geflüchteten am 8. März empfangen“, erklärt Elsa Moulin. „Es waren sehr wenige – sicherlich die Hungrigsten, aber auch die Mutigsten, die als erste versucht haben, zu flüchten. Und sie mussten wirklich sehr viel Mut aufbringen … Es waren vor allem Mütter und ihre Kinder. Und dann einige Alte, das heisst jene, die laufen konnten. Die Flucht bis Ozoba dauerte vier Tage. Dabei haben sie Buschpfade genommen und sind nur in der Nacht gegangen, um nicht bemerkt zu werden.“
Nachdem der Gemeindeleiter Walendu Bindi, der Distriktkommissar und MSF, die einzige anwesende humanitäre Organisation, sich bei den Verantwortlichen des Militärs dafür eingesetzt hatten, dass die Zivilisten durchgelassen werden, sollte sich die Fluchtbewegung im Laufe der nächsten Tagen verstärken.. Leider sind bis Ende März nur kleine Gruppen aus dem Buschland aufgetaucht. Die Rolle der Milizen bleibt natürlich die grosse Frage. Wieso gefährden sie weiterhin das Leben ihrer Zugehörigen?
Auf jeden Fall kommen die meisten von ihnen völlig erschöpft an, wie es das MSF-Team feststellen konnte, das sie dann nach Aveba und Gety gebracht hat. Unter den Geflüchteten litten fast 10 Prozent der Kleinkinder unter fünf Jahren an schwerer Mangelernährung und mussten in Gety in das Krankenhaus eingewiesen werden. Die Anzahl der Personen, die unterwegs im Kugelhagel oder aus Erschöpfung gestorben sind, kann schlicht und einfach nicht eruiert werden. Denn die Region bleibt abgeriegelt.
Die Falle ist wieder zugeschnappt
Und dann ist der bereits regelmässige Strom an den ersten Apriltagen genauso plötzlich wieder versiegt. Die Falle schnappte erneut zu und schloss die Zivilisten zwischen den Fronten ein.
2046 Menschen konnten so entkommmen. Dann, Anfangs April, wurden die Leute erneut blockiert. Obwohl es offiziell heisst, die Tür sei weiterhin offen, schaffen es nur noch ganz wenige Personen aus dem Buschland raus.
Wie viele sind derzeit noch am Waldrand ohne Nahrung und nah den todbringenden Waffen blockiert? Die Verantwortlichen der Gemeinden schätzen die Zahl auf mindestens mehrere Tausend. „Man kriegt wirklich das Gefühl, dass diese bewaffneten Männer sich überhaupt nicht um ihre Angehörigen sorgen.“, sagt Laurence Gaubert voller Wut. „Es ist eine Tragödie, denn aufgrund der Unsicherheit ist für diese Menschen keine Hilfe denkbar.“ Laut den Einwohnern konnte niemand die in der Falle sitzende Bevölkerung erreichen, abgesehen von einem ungeheuer mutigen und zähen Studenten aus Bunia, der seine Familie daraus holen wollte und von einer Handvoll andere Zivilisten. „Nachdem der Student Adaba Masumbuku mit seiner Familie von der anderen Seite der Linien zurückgekehrt ist, hat er uns das Bild von Menschen beschrieben, die am Ende ihrer Kräfte sind.“ Die Verantwortliche der MSF-Mission macht kein Hehl aus ihrem Pessimismus: „Sollen wir darauf warten, dass alle diese Leute im Buschland sterben, damit sich diese Situation ändert?“
Viele Einwohner von Gety oder Bunia zweifeln daran, ob sie eines Tages erfahren, was hinter der Linien genau passiert ist. Das Schweigen wiegt schwer auf die Situation in Ituri, auf diese Opfer, auf diese Frauen und diese Kinder, die flüchten bis sie in der Falle tappen. „Und doch ist dieses Konflikt keine unabwendbare Tatsache. Er darf nicht in Vergessenheit geraten und auf Indifferenz stossen, sondern Lösungen müssen gefunden werden, damit diese Menschen endlich in Frieden leben können.
Letzten Nachrichten zufolge, haben die Gefechte seit drei Tagen im Wald von Mukato Ngazi wieder angefangen, was die Zivilisten wieder daran hindert, herauszukommen.