„Viele Flüchtlinge wollen einfach ihre Geschichte erzählen”
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Daniela Oberti arbeitet als MSF-Pflegefachfrau für syrische Flüchtlinge im Osten des Libanon. Sie erzählt aus ihrem Alltag.
Jdeideh, Bekaa-Ebene, Libanon, 16. Mai 2012. Es war ein langer Tag mit vielen Begegnungen. Heute Morgen war ich in der Gesundheitsstation Aarsal, die sich auf 1600 Metern Höhe befindet. Gleich hinter den Bergen liegt Syrien. Die Landschaft ist atemberaubend schön. Die Bergspitzen sind noch schneebedeckt, doch im hügeligen Vorland setzt bereits die sommerliche Hitze ein. Aarsal ist für viele Syrer der Ankunftsort im Libanon.
In den vergangenen Wochen haben zahlreiche Nichtregierungsorganisationen ihre Arbeit in Aarsal aufgenommen. Das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) hat damit begonnen, die Flüchtlinge offiziell zu registrieren. Die Registrierung bedeutet, dass die Syrer eine Identifikationskarte erhalten, die sie als Vertriebene anerkennt und ihnen Zugang zu den Hilfeleistungen regionaler und internationaler Organisationen gibt.
Alle Häuser belegt
Bei meiner Ankunft vor eineinhalb Monaten standen in Aarsal noch einige Häuser leer. Doch jetzt sind alle Gebäude, selbst noch im Bau befindliche, an Syrer vermietet. Viele Flüchtlinge sind bei libanesischen Familien untergekommen. Man sieht auch immer häufiger Zelte von regionalen Hilfsorganisationen. Mehrere Familien wohnen in einer grossen Moschee, die noch eine Baustelle ist. Fliessendes Wasser steht zur Verfügung, und auch Nahrung und Hygiene-Kits werden verteilt.
Nur wenige Kinder gehen zur Schule. Einige Männer arbeiten für einen mageren Lohn als Schreiner, die meisten haben aber keine Arbeit und wissen nicht, was aus ihnen werden soll.
Es sind ganz normale Menschen, ganz normale Familien, die wegen der Kämpfe ihre Heimat verlassen mussten. Die meisten Flüchtlinge kommen aus Homs, wo die Gefechte zwischen Aufständischen und Armee weitergehen und ständig Bomben einschlagen.
Die Stimme verschlagen
Mit der italienischen Psychologin Arianna, dem Psychologen Mohamed und der Übersetzerin gehe ich in die grosse, unfertige Moschee. Wir suchen einen Patienten von Mohamed, der nicht mehr zur Psychotherapie erschienen ist. Ich nutze die Gelegenheit, um mit den Familien zu sprechen, und wir werden sofort auf einen Kaffee in ihre Zelte eingeladen.
Zufällig treffe ich Hamia, eine bald 20-jährige Jugendliche, die ebenfalls die psychologische Betreuung aufgegeben hat. Sie hält sich in einem Raum der Moschee auf, der bis auf die Matratzen und Teppiche am Boden leer ist. Ihre Familienmitglieder sind in grosser Sorge um Hamia. Sie sitzt in zwei Decken eingewickelt in einer Ecke und weint unaufhörlich. Sie redet nicht mehr. Wir erfahren, dass ihr 16-jähriger Bruder gestern in Syrien getötet wurde. Diese Nachricht hat alle erschüttert. Auch ich bin sprachlos. Schliesslich frage ich sie, ob sie mit dem Psychologen reden möchte, und sie willigt ein. Mohamed kommt in den Raum und spricht mit ihr.
Normale Menschen
Ich kehre ins Büro von MSF in Jdeideh zurück und nehme an der wöchentlichen Sitzung des medizinischen Teams teil. Am Abend denke ich an die Begegnungen des Tages zurück, an all die Gesichter, die ich gesehen habe. Viele traurige Gesichter, Frauen und Männer mit Tränen in den Augen, und trotz allem würdevoll und gastfreundlich. Sie dankten mir, obwohl ich nichts für sie getan hatte. Viele Menschen, die mit ihren Gesundheitsproblemen zu mir kamen, konnte ich nur dazu auffordern, am nächsten Tag die Gesundheitsstation zu besuchen.
Viele wollten einfach mit jemandem reden und ihre Geschichte erzählen. Ich spürte, wie wichtig es war, für sie da zu sein, zuzuhören und Bruchstücke aus ihrer Lebensgeschichte zu erfahren. Die Nachrichtensendungen werden sicher wieder von Bomben, Verletzten und Toten berichten, doch hinter jeder Bombe, jedem Verletzten und jedem Toten steht das Leid ganzer Familien und Gemeinschaften. Menschen wie wir, die sich plötzlich, ohne jegliches Verschulden, mitten in einem Krieg befinden.