Westjordanland: Verheerende Angriffswelle in Dschenin

Eine Moschee, die durch einen Luftangriff zerstört wurde, bei dem zwei Palästinenser im Geflüchtetencamp Dschenin getötet wurden. 25. Oktober 2023.

Palästinensische Autonomiegebiete4 Min.

Durch Angriffe der israelischen Streitkräfte vor dem 7. Oktober 2023 starben im Westjordanland 205 Palästinenser:innen. Unsere Teams sind auch im Westjordanland tatkräftig im Einsatz.

Am 19. Juni starteten die israelischen Streitkräfte Luftangriffe auf das Westjordanland – erstmals seit der  zweiten Intifada Anfang der 2000er Jahre. Kurz darauf, am 3. Juli, kam es zu einer Militäroperation im dicht besiedelten Geflüchtetenlager Dschenin. Dabei warfen Kampfjets 48 Stunden lang Bomben auf das Lager ab und griffen es mit Drohnen an. Auch am Boden eskaliert die Gewalt: In der Notaufnahme des Khalil-Suleiman-Spitals, das von uns unterstützt wird, warfen israelische Streitkräfte eine Tränengasgranate in die Notaufnahme. Dadurch erhöhte sich die Zahl der Patient:innen im bereits stark ausgelasteten Spital weiter. Während der Militäroperation erlebten unsere Mitarbeitenden mit eigenen Augen, wie die Zugangswege für Krankenwagen blockiert und Gesundheitseinrichtungen gezielt angegriffen wurden – eine Praxis, die in den Monaten darauf alltäglich werden sollte.

Im schummrigen Licht des Spitalzimmers erkennt man Amins Umrisse auf dem Krankenbett. Der 17-Jährige lebt in Dschenin. Bei einem Luftangriff auf das Geflüchtetenlager im Westjordanland schossen israelische Streitkräfte Amin in beide Beine. 

Amin war am 19. November gerade auf dem Heimweg, als die Razzia begann und ihm ein israelischer Soldat in beide Beine schoss. In der Nähe des Lagers gibt es zwar ein Spital. Jedoch konnte der Krankenwagen über zwei Stunden lang nicht zu dem Verletzten vordringen: Israelische Streitkräfte umstellten das Spital und blockierten die Zufahrtsstrassen mit Panzerfahrzeugen.

Derweil erlitt Amin schwere Blutungen. Ein freiwilliger Sanitäter fand ihn am Strassenrand liegend und brachte ihn in Dschenin auf eine Stabilisierungsstation. In dem behelfsmässig ausgestatteten Raum stehen lediglich ein Bett sowie ein paar medizinische Geräte. Das Wichtigste war, Amins Blutungen zu stoppen.

MSF Jenin West Bank Khalil Suleiman

Am 28. November 2023 besuchte Dr. Christos Christou, internationaler Präsident von MSF, das Geflüchtetencamp in Dschenin und das von uns unterstützte Khalil Suleiman Spital. «Die Zahl der Menschen, die hier in diesem Jahr getötet wurden, ist beispiellos. Aber das sind keine Zahlen, das sind Menschen», sagt Dr. Christou.

© MSF

Im Geflüchtetenlager gibt es mehrere so genannte Trauma-Stabilisierungspunkte. Sie werden von  freiwilligen medizinischen Helfer:innen selbstständig betrieben. Lebensrettende medizinische Hilfe erhalten die Bewohner:innen des Lagers nur hier. Immer wieder werden diese Stationen jedoch bei Drohnenangriffen getroffen oder durch Bodentruppen zerstört. Die Freiwilligen im Lager berichten, dass die israelischen Streitkräfte sie daran hindern, Krankenstationen wieder aufzubauen oder neue zu errichten.

«Die Situation ist einfach nur schrecklich», sagt eine Pflegefachfrau des Khalil-Suleiman-Spitals. Die Einrichtung in der Nähe des Lagers in Dschenin wird von Ärzte ohne Grenzen/MSF unterstützt.

Früher hatten wir hier eine eigene Fussballmannschaft. Von den 20 Spielern sind nur noch sieben am Leben. Seit Juli 2023 wurden viele von ihnen getötet. Und sie waren noch so jung, alle zwischen 17 und 22 Jahren.

Ein Krankenpfleger, der im Khalil Suleiman Spital arbeitet

«Die aktuelle Situation im Westjordanland und insbesondere in Dschenin ist extrem. Die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung hat deutlich zugenommen. Seit dem 7. Oktober sogar rapide. Auch Angriffe auf die Gesundheitsversorgung häufen sich und gehören mittlerweile zur Tagesordnung. Schwerwiegend ist zudem die Zerstörung von Strassen und Infrastruktur wie Wasserleitungen und Abwassersystemen», so Luz Saavedra, die unser Projekt in Dschenin koordiniert.

In den letzten Wochen belagerten die israelischen Streitkräfte mehrere Spitäler in Dschenin, wodurch der Zugang zu medizinischer Versorgung deutlich erschwert wurde. Ein Teenager wurde sogar auf dem Gelände des Khalil-Suleiman-Spitals erschossen. Die Behinderung der Gesundheitsversorgung ist leider alltäglich geworden. Bei jedem Einmarsch der israelischen Armee werden verschiedene Spitäler, darunter auch öffentliche Spitäler, umzingelt.

«Der Respekt für medizinische Einrichtungen nimmt stetig ab. Seit Oktober mussten wir mehrere Gewalttaten mitansehen: Auf dem Spitalgelände wurde ein 14-jähriger Junge erschossen. Soldat:innen feuerten scharfe Munition auf das Spital ab und sprühten Tränengas. Sanitäter:innen wurden gezwungen, sich auszuziehen und sich draussen hinzuknien.

Luz Saavedra, MSF Projekt Koordinator

«Der Respekt für medizinische Einrichtungen nimmt stetig ab. Seit Oktober mussten wir mehrere Gewalttaten mitansehen: Auf dem Spitalgelände wurde ein 14-jähriger Junge erschossen.  Soldat:innen feuerten scharfe Munition auf das Spital ab und sprühten Tränengas. Sanitäter:innen wurden gezwungen, sich auszuziehen und sich draussen hinzuknien. Diese Gewalt gefährdet die Menschen in Lager direkt. Aber auch der eingeschränkte Zugang zu medizinischer Versorgung fordert Menschenleben. Und genau dies scheint während und nach Militärangriffen in Dschenin zur Standardprozedur geworden zu sein. Patient:innen, die das Spital nicht erreichen, können wir nicht behandeln. Kranke und Verletzte müssen jederzeit Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Deshalb ist der Schutz von Gesundheitseinrichtungen so unglaublich wichtig.»

2023 starben besonders viele Palästinenser:innen im Westjordanland. Zwar hat Amir den Angriff  überlebt, aber seine Zukunft ist ungewiss. Als er aus dem Spital entlassen wird, sagt er: «Jeder kann zur Zielscheibe werden. Wer ist der oder die Nächste? Das wissen wir nicht». Er wird in sein Haus im Lager zurückgebracht. Gut möglich, dass die Strasse, an der es steht, in der Zwischenzeit zerstört wurde.