„Wir wurden jeden Tag Zeuge der schrecklichen Folgen des Krieges”

Lindis Hurum, coordinatrice d'urgence, dans le camp de Mpoko à l'aéroport de Bangui.

4 Min.

Die MSF-Projektkoordinatorin Lindis Hurum schildert ihre Erlebnisse bei ihrem Einsatz in dem Vertriebenenlager in Bangui.

Seit Anfang Dezember hat Médecins Sans Frontières / Ärzte ohne Grenzen (MSF) mehr als 1’000 Patienten medizinisch versorgt, die bei den Schiessereien und der Gewalt rund um den Flughafen der Hauptstadt Bangui verletzt worden sind. Etwa 100’000 Menschen aus dem ganzen Land sind hierher geflüchtet. Allein in der vergangenen Woche kamen 100 Patienten zu uns, die von Kugeln getroffen oder mit Macheten verletzt worden waren. Lindis Hurum hat die Aktivitäten im Lager von Bangui koordiniert und spricht über ihre Erfahrungen.

Wie würdest du die Lage in Bangui generell beschreiben?

Es ist wirklich schlimm. Ich glaube, es gab keinen Tag, an dem es keine neuen Verletzten gab. Im Dezember war der Frontverlauf noch klarer. Im Wesentlichen haben sich zwei Gruppen Gefechte geliefert: die christlich geprägten Anti-Balaka-Milizen und die muslimischen Seleka-Milizen. Mit der Zeit haben sich die Gefechte geändert. Sie wurden zu Scharmützeln, in denen sich verschiedene kleinere Gruppen bekämpften und sich zum Teil am helllichten Tag mitten auf der Strasse töteten. Wir wurden jeden Tag Zeuge der schrecklichen Folgen. Es kamen Menschen zu uns, denen die Nasen fehlten, die Ohren, die Brustwarzen. Praktisch jedes Körperteil wurde abgetrennt. Ein Mann musste seinen Kopf festhalten, damit er nicht abknickte. Man hatte ihm mit einer Axt von beiden Seiten in den Hals gehackt. Es war schrecklich, und es reichte den Angreifern nicht, andere zu töten – es sollte wohl auch noch so grausam wie möglich sein. Sie benutzten selbstgemachte Waffen. Ich habe marodierende Banden gesehen mit einer abgeschlagenen Hand als Trophäe.

Wie ist die Situation für die Vertriebenen im Lager?

Schlimm. Sie war schlimm, als die Menschen am Flughafen ankamen, und sie ist es immer noch. Sie kamen mit nichts, und sie haben immer noch nichts. Und natürlich ist der Flughafen für ein Lager dieser Grösse nicht gemacht. Es ist eine absurde Situation. 100’000 Menschen leben 100 Meter von der Startbahn entfernt und suchen Schutz, wo immer sie können. Manche haben sich beispielsweise unter den Tragflächen ausrangierter Flugzeuge niedergelassen. In der ersten Woche hatte ich das Gefühl, wir würden einem Zug hinterher rennen, der immer schneller wird. Jeden Tag schien sich die Lage zu verschlechtern. Es gab keine Latrinen, nicht genug Wasser, niemanden, der das Lagerleben organisierte, einfach nichts. Die Sicherheitslage ist desolat, das Camp wächst rasend schnell, und MSF ist die einzige Organisation, die zurzeit vor Ort ist – das alles macht es uns schwer, adäquat zu helfen.

Wie sieht die medizinische Hilfe von MSF aus?

Wir haben ein Spital mit 60 Betten und drei Anlaufstellen im Lager errichtet. Für chirurgische Eingriffe organisieren wir auch die Überweisung an andere Spitäler. Im Schnitt behandeln wir rund 1’000 Patienten am Tag, und täglich kommen ca. 10 Kinder zur Welt. MSF arbeitet auch noch in anderen Lagern in Bangui. Ich denke, wir müssten uns auch noch mehr um die psychischen Folgen kümmern. Die Menschen haben schreckliche Gewalt gesehen, verloren Familienmitglieder und Freunde und mussten flüchten. Nun sind sie traumatisiert, erfüllt von Hass und dem Wunsch, Rache zu üben.

Wie haben andere Akteure auf die Krise reagiert?

Die Reaktion der UNO war in den ersten Wochen extrem langsam. Es wurde einfach zu wenig, zu spät getan. Das Lager am Flughafen liegt in der Hauptstadt des Landes und ist somit am einfachsten zu erreichen. Seit Anfang Januar gab es dann Verteilungen von Nahrung und Hilfsgütern. Aber die Bedürfnisse bleiben riesig, und es müsste mehr getan werden.

Wie ist die Sicherheitslage für die MSF-Teams?

Es gab verirrte, aber auch gezielte Schüsse in das Camp, und Menschen wurden getötet – auch Kinder. Mehrfach mussten wir selber uns auf den Boden werfen, um uns vor Kugeln in Sicherheit zu bringen. Einmal verschafften sich bewaffnete Männer Zugang zu unserer Klinik; sie suchten nach einem Muslim, der sich versteckte. Wir mussten das Team aus Sicherheitsgründen immer wieder reduzieren und uns auf die lebensnotwendigen Behandlungen beschränken. Es waren sehr schwer zu treffende Entscheidungen, weil man natürlich weiss, wie viele Menschen von unserer Hilfe abhängen. Aber ich musste so entscheiden, es war zu gefährlich. Es ging die ganze Zeit so: Jeden Morgen mussten wir die Lage von Neuem bewerten. Dabei war es sehr hilfreich, dass die verschiedenen Parteien unser Mandat als neutrale, unparteiliche Helfer verstanden. MSF wurde nie direkt angegriffen.

Was sind die Bedürfnisse der vertriebenen Menschen?

Die Menschen sind verängstigt und traumatisiert. Manche können vom Flughafen aus ihr Zuhause sehen, aber sie trauen sich nicht dorthin zurück zu gehen. Sie sagten ganz klar, dass sie die Wahl haben: Entweder in dieser furchtbaren Situation zu leben oder getötet zu werden. Es sind wirklich bewundernswerte Menschen, die ihr Bestes geben, um in dieser hoffnungslosen Lage ein wenig Normalität und Privatsphäre aufrechtzuerhalten. Sie wünschen sich nichts so sehr wie Frieden und Schutz, sodass sie heimgehen können, aber abgesehen davon brauchen sie so ziemlich alles. Zunächst muss die Grundversorgung sichergestellt werden: Wasser und Nahrung, Zelte und sanitäre Anlagen. Aktuell machen mir die sanitären Bedingungen die grössten Sorgen. Wenn kein richtiges System vorhanden ist – Latrinen, Duschen, Wasserversorgung – und wenn dann im März die Regenzeit einsetzt, wird es ein hohes Risiko für Epidemien im Lager geben.