Italien und die EU dürfen Bootsflüchtlinge nicht im Stich lassen
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Ein Jahr nach dem tragischen Schiffsunglück vor der Insel Lampedusa, bei dem rund 360 Menschen starben, fordert MSF die Europäische Union auf, weiterhin proaktive Suchaktionen im Mittelmeer durchzuführen um das Leben von Bootsflüchtlingen zu retten.
Die Hilfsorganisation weist zugleich darauf hin, dass ihre Teams in Sizilien immer mehr besonders verletzliche Patienten wie schwangere Frauen und Kinder versorgen müssen.
Die Zahl der Menschen, die vor dem Krieg in Syrien, dem Chaos in Libyen und anderen Krisen nach Europa flüchten, steigt weiter an. Doch während die Konflikte weltweit zunehmen, schliesst die EU weiterhin ihre Grenzen für Flüchtlinge und zwingt diese dadurch, über den gefährlichen Seeweg nach Europa zu reisen, um internationalen Schutz zu beantragen. Teams von Médecins Sans Frontières / Ärzte ohne Grenzen (MSF) sind in den beiden sizilianischen Hafenstädten Augusta und Pozzallo tätig, in denen die meisten Boote ankommen. Die Teams bieten medizinische Versorgung und psychologische Betreuung für tausende Menschen, die vor dem Krieg in Syrien, Verfolgung in Eritrea und grosser Armut in afrikanischen Ländern südlich der Sahara fliehen.
Derzeit kommen aus Italien und der EU Besorgnis erregende Signale. Demnach könnte die italienische Rettungsaktion „Mare Nostrum“ beendet werden. Die angekündigte EU-Operation „Frontex Plus“ soll dem Vernehmen nach weniger umfassend sein – und könnte beispielsweise nur Patrouillen in italienischen Hoheitsgewässern vorsehen.
„So lange verzweifelte Menschen gezwungen werden, diese lebensgefährliche Route zu nehmen, müssen Italien und die EU auf das humanitäre Desaster reagieren, das sich vor ihrer Haustür abspielt“, fordert Stefano Di Carlo, MSF-Einsatzleiter in Italien. „Tausende Leben wären in Gefahr, sollten die Patrouillen nicht auch in internationalen Hoheitsgewässern durchgeführt werden, in denen viele der Schiffsunglücke geschehen.“
Die Route von Nordafrika über das Mittelmeer nach Italien ist die gefährlichste aller Routen nach Europa. Die Menschen laufen nicht nur Gefahr, auf hoher See umzukommen, sondern sind unterwegs auch häufig extremer Gewalt ausgesetzt. Das Chaos in Libyen hat zusätzlich dazu beigetragen, dass tausende Menschen nach Europa fliehen; rund 90 Prozent aller Flüchtlingsboote starten in dem nordafrikanischen Land. Die MSF-Teams auf Sizilien stellen fest, dass immer mehr ihrer Patienten besonders verletzlichen Bevölkerungsgruppen angehören. Opfer von Gewalt und Folter, Menschen mit Behinderungen, schwangere Frauen und Kinder fliehen, um ihr Leben zu retten. Sie flüchten meist vor Konflikten, Verfolgung und Armut.
„In all den Jahren, in denen wir Migranten und Flüchtlinge in Italien medizinisch versorgt haben, haben wir nie so viele Frauen und Kinder gesehen wie jetzt“, sagt Di Carlo. „Sie fliehen vor der einen Gefahr direkt in die nächste hinein und können nur hoffen, dass die klapprigen Boote sie in Sicherheit bringen werden. Viele der Ankömmlinge haben Schiffbrüche miterlebt, haben mit ansehen müssen, wie Menschen ertrunken sind oder haben selbst Angehörige verloren.“
Zwischen Januar und August haben die MSF-Teams in Pozzallo fast 19‘000 Menschen medizinisch betreut, die bei insgesamt 64 Bootslandungen angekommen sind. Die meisten Menschen sind in relativ guter physischer Verfassung, weil sie frühzeitig durch den „Mare Nostrum“-Einsatz gerettet werden. Die meisten medizinischen Beschwerden, die behandelt werden müssen, hängen mit der langen Reise vor der Einschiffung zusammen: Verletzungen, Atemwegserkrankungen sowie Hautkrankheiten aufgrund mangelnder Hygiene in libyschen Lagern. Im August hat MSF in der Hafenstadt Augusta eine Klinik eröffnet, in der im ersten Monat 583 Patienten ambulant behandelt wurden. Davon berichteten 71 Personen, Opfer von Gewalt geworden zu sein.
„Die tödlichen Schiffbrüche der vergangenen Wochen zeigen klar, wie notwendig Rettungsaktionen im Mittelmeer nach wie vor sind. Zugleich steht fest, dass Menschen ihr Leben riskieren, weil es keine sichere und legale Wege gibt, Europa zu erreichen“, sagt Di Carlo. „Es ist beschämend, dass solche Rettungsaktionen überhaupt notwendig sind. Menschen sollten ihr Leben nicht ein zweites Mal riskieren müssen, nachdem sie schon vor den Gefahren in ihren Heimatländern geflohen sind.“
MSF ist seit 2002 für Flüchtlinge und Migranten in Italien tätig, vor allem auf der Insel Lampedusa (bis 2013). Derzeit unterstützt MSF die italienischen Gesundheitsbehörden in den sizilianischen Provinzen Ragusa und Siracusa, wo die Teams Flüchtlinge, Migranten und Asylbewerber medizinisch versorgen.
In Griechenland war MSF bis April 2014 im Norden des Landes tätig. Die Teams boten Flüchtlingen, Migranten und Asylbewerbern in Polizeistationen und Auffanglagern medizinische sowie psychologische Betreuung. MSF plant ausserdem gemeinsam mit zwei griechischen Organisationen ein Projekt zur medizinischen Behandlung von Gewaltopfern in Athen.