Im Jahr 2020 waren 63 000 Mitarbeitende für Ärzte ohne Grenzen im Einsatz. Insgesamt erreichten uns 444 Beschwerden. Davon stammten 389 von Mitarbeitenden in unseren humanitären und medizinischen Projekten und 55 aus unseren internationalen Büros. Im Folgenden sind die Fälle nach internationalen Büros und Einsatzgebieten gegliedert, da die Terminologie und die Reporting-Prozesse nicht in jeder Hinsicht vergleichbar sind.
Die Gesamtzahl der eingehenden Beschwerden lag in 2020 22 Prozent über dem Vorjahr. Bisher hatte Ärzte ohne Grenzen eher mit einem «Under-Reporting» von Missverhalten zu kämpfen. Die aktuellen Zahlen lassen darauf schliessen, dass unsere Bemühungen, das Problem nachhaltig anzugehen, greifen. Beschwerdeführer und Zeugen trauen sich zunehmend, ihre Meinung zu äussern. Auch wurde ein allgemeines Bewusstsein für die verschiedenen eingerichteten Meldemechanismen und -kanäle geschaffen bzw. gestärkt.
Aufgrund der Pandemie wurden Face-to-Face-Aktivitäten zur Verringerung inakzeptablen Verhaltens zurückgefahren, während virtuelle Trainings diesbezüglich intensiviert wurden. Im Vergleich zu 2019 wurden mehr Mitarbeitende im Umgang mit Fehlverhalten geschult.
Dennoch ist «Under-Reporting» nach wie vor ein Thema. Besondere Sorge bereitet die schwindende Anzahl Beschwerden von Patient*innen, Betreuungspersonen und Gemeindemitgliedern. Dies zeigt, wie wichtig Prävention und die Entwicklung von Beschwerdesystemen in den Gemeinden für diese Gruppen sind.
Beschwerden aus unseren Einsatzländern
Mehr als 90 Prozent der MSF-Mitarbeitenden (57 429 Personen) waren 2020 im Feldeinsatz. Insgesamt gab es 389 Beschwerden, die sich auf diese Mitarbeiterkategorie bezogen, im Jahr 2019 waren es 318.
Davon wurden nach Prüfung 149 Beschwerden als Fälle von Missbrauch oder unangemessenem Verhalten bestätigt, im Vergleich zu 156 im Jahr 2019.
82 Vorfälle wurden als Missbrauch eingestuft, im Vergleich zu 106 bestätigten Fällen im Jahr 2019 (darunter fallen sexueller Missbrauch, Belästigung und Ausbeutung; Machtmissbrauch; Mobbing; Diskriminierung sowie körperliche Gewalt). Im Jahr 2020 wurden insgesamt 40 Mitarbeitende aufgrund verschiedener Formen von Missbrauch entlassen (55 Entlassungen im Jahr 2019). Je nach Schweregrad wurden andere Massnahmen ergriffen, wie z. B. Suspendierung, Herabstufung oder schriftliche Verwarnungen.
Von den 82 bestätigten Fällen von Missbrauch waren 55 Fälle von sexueller Belästigung, Missbrauch oder Ausbeutung (SEAH), im Vergleich zu 63 im Jahr 2019. 28 Mitarbeitende wurden 2020 infolge eines SEAH-Vorfalls entlassen (40 im Jahr 2019).
Bei den anderen bestätigten Fällen von Missbrauch handelte es sich um Mobbing (14 bestätigte Fälle), Machtmissbrauch (8 bestätigte Fälle), körperliche Gewalt (3 bestätigte Fälle) und Diskriminierung (2 bestätigte Fälle).
Zudem gab es 67 bestätigte Fälle von unangemessenem Verhalten, gegenüber 50 im Jahr 2019 (darunter fallen Fehlverhalten von Mitarbeitenden, unangemessene Beziehungen, unangemessenes Verhalten, das nicht den gesellschaftlichen Normen entspricht oder den Zusammenhalt des Teams beeinträchtigt, sowie Drogenkonsum).
Es gab einen kleinen, aber bemerkenswerten Anstieg bei den Beschwerden von unterrepräsentierten Gruppen. Dennoch bleibt noch viel zu tun:
Die Gesamtzahl der Beschwerden von lokal rekrutiertem Personal stieg 2020 auf 172 an (gegenüber 144 im Jahr 2019). Die Stärkung des Bewusstseins und des Vertrauens von Kolleg*innen in Bezug auf ihre Beschwerdemöglichkeit ist als Erfolg zu werten. Doch angesichts der Tatsache, dass lokale Kolleg*innen 80 Prozent des Personals von MSF ausmachen, liegt noch viel Arbeit vor uns.
Bei der Gesamtzahl der von Patient*innen, Pflegekräften, Gemeindemitgliedern und anderen externen Parteien eingereichten Beschwerden gab es einen sehr leichten Anstieg auf 20 im Jahr 2020 (von 20 im Jahr 2019). In Anbetracht der Tatsache, dass Ärzte ohne Grenzen unzählige medizinische Konsultationen in über 80 Projekten weltweit erbringt und auch auf andere Art mit verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Kontakt kommt, ist es wahrscheinlich, dass hier die Anzahl von nicht gemeldeten Vorfällen signifikant ist. Bestehende Beschwerdemechanismen müssen weiter angepasst und verbessert werden, um Patient*innen und Gemeinden in den Einsatzgebieten besser zu erreichen, insbesondere angesichts der besonderen Bedürftigkeit vieler Menschen, denen Ärzte ohne Grenzen hilft.
Beschwerden aus den internationalen Büros
2020 hat Ärzte ohne Grenzen zusätzlich zu den Daten aus unseren medizinischen Projekten vor Ort auch Beschwerden aus unseren Büros in aller Welt vorliegen. Rund zehn Prozent der MSF-Belegschaft arbeitet in diesen internationalen Büros.
In den vergangenen Jahren mussten wir feststellen, dass das Fehlen dieser Zahlen zu einer erheblichen Datenlücke geführt hat. Entsprechend gibt es kein Vergleichsjahr. Trotz der Bemühungen um eine Standardisierung des Reportings beziehen sich diese Daten auf unterschiedliche rechtliche und personalwirtschaftliche Prozesse und sind daher möglicherweise noch nicht vollständig harmonisiert.
Von den 37 Hauptbüros (nicht-operative Einheiten), in denen im Jahr 2020 insgesamt 5596 Mitarbeitende (10 Prozent der MSF-Belegschaft) tätig waren, wurden 55 Fälle entweder über Managementlinien oder bürospezifische Beschwerdesyteme gemeldet.
Nach Prüfung wurden 38 Fälle entweder als Missbrauch (20) oder als unangemessenes Verhalten (18) eingestuft.
In 20 Fällen wurden Personen entweder entlassen oder es wurden – je nach Schweregrad – andere Massnahmen wie z. B. formelle Verwarnungen verhängt.
Eine Arbeitsumgebung zu schaffen und zu erhalten, in der Missbrauch und Belästigung keinen Platz haben, ist ein kontinuierlicher Prozess. Wir alle sind dafür verantwortlich. Auch verpflichten wir uns dazu, bedürftige Personen zu unterstützen – und ihnen keinerlei Schaden zuzufügen.
Wir fordern Mitarbeitende, Patient*innen und andere Personen, die mit MSF in Kontakt sind, dazu auf, weiterhin jegliche Vorfälle von inakzeptablem Verhalten zu melden.