Cholera muss nicht nur behandelt, sondern auch erklärt werden
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Eine der wichtigsten Massnahmen des MSF Cholera-Noteinsatzes in Cap Haitien, der zweitgrössten Stadt Haitis, ist die Aufklärung der Bevölkerung.
Nachdem sich die Cholera-Epidemie am 22. Oktober 2010 von der Region Artibonite auf den Rest des Landes ausgedehnt hatte, entsandte MSF am 5. November ein Notfallteam nach Cap Haitien, einer im Norden des Landes gelegenen Hafenstadt mit 325'000 Einwohnern. Seit Beginn des Einsatzes wird die medizinische Betreuung von einer Informationskampagne begleitet, mit der die Krankheit entmystifiziert werden soll. Es geht darum zu erklären, wie man mit Cholera-Kranken umgeht, wie weitere Ansteckungen verhindert werden können, aber auch worin die Arbeit von MSF besteht.
Entmystifizierung der Cholera, damit Betroffene nicht stigmatisiert werden
Die ersten Bilder der Cholera waren traumatisierend. Das Spital hatte die ersten Cholera-Fälle in die städtische Turnhalle ausquartiert. Das Gesundheitspersonal hatte weder Erfahrung noch genügend Material, um auf eine Epidemie reagieren zu können. Zudem kannten die Menschen diese Krankheit nicht, die unbehandelt schnell zum Tod führen kann. Und so wurden alle möglichen Ängste, Gerüchte und Spekulationen verbreitet, von denen keine Gesellschaftsschicht verschont blieb. Die Erkrankten trauten sich wegen der Stigmatisierung nicht, von ihrer Ansteckung zu erzählen. Sie starben zuhause oder erreichten das Spital erst, als es schon zu spät war.
Als das MSF Team in Cap Haitien eintraf, befanden sich etwa dreissig Patienten in der Turnhalle. Weil die Sterblichkeit sehr hoch war, nannten die Bewohner von Cap Haitien diesen Ort auch „Todestrakt“. „Eine der grössten Schwierigkeiten bestand darin, den Behörden und der Bevölkerung zu erklären, was Cholera für eine Krankheit ist. Die Menschen wollten die Turnhalle verriegeln“, erklärt Dr. Helmi Mekaoui, Notfallkoordinator von MSF. „Viele waren schockiert von dem, was sie sahen. In den Strassen lagen Leichen herum.“
Nach Verhandlungen mit den Behörden richtete MSF in der Turnhalle ein Cholera-Behandlungszentrum ein. Es wurde mehr Personal eingestellt, damit der Ansturm bewältigt und das Zentrum sauber gehalten werden konnte. Eine wichtige Massnahme des Einsatzes war die Aufklärung der Bevölkerung. Die MSF-Mitarbeiter trugen damit zur Entmystifizierung der Krankheit bei, aber auch dazu, dass ein Behandlungszentrum in der Nähe toleriert wurde. „Während die medizinischen Teams rund um die Uhr arbeiteten, um möglichst viele Leben zu retten, gingen die Aufklärer in die Gemeinden und erklärten den Patienten, Begleitern und Passanten, dass die Turnhalle gereinigt worden war und dass dort jetzt Kranke behandelt werden“, fährt Helmi Mekaoui fort.
Ende November, vier Wochen nach der Ankunft von MSF, sind bereits mehr als 4'000 Patienten behandelt worden. Die Sterblichkeit in der Turnhalle ist um ungefähr 14 Prozent gesunken und liegt gegenwärtig bei etwa 1,4 Prozent.
Eine Krankheit, die einfach zu behandeln und der leicht vorzubeugen ist
MSF hat vor Ort zahlreiche Mitarbeiter rekrutiert und geschult, die den Patienten und ihren Begleitpersonen erklären, wie die Krankheit übertragen wird und wie eine Ansteckung vermieden werden kann. Ziel ist, dass diese Menschen ihr Wissen an ihre Angehörigen weitergeben. Innerhalb von zwei Wochen ist das MSF-Team für Information, Ausbildung und Kommunikation (IAK) von sechs auf mehr als 40 Mitarbeiter angewachsen, die im Behandlungszentrum und in den Strassen von Cap Haitien die Bevölkerung sensibilisieren.
„Die Leute können nicht glauben, dass eine derart gefährliche und ansteckende Krankheit so leicht zu behandeln ist und dass sie mit den einfachsten Mitteln vermieden werden kann. Die Zauberformel lautet: häufiges Händewaschen und sauberes Trinkwasser“, erläutert Helmi Mekaoui. Wir erklären den Patienten, dass es bei der Behandlung um eine Rehydrierung geht und dass eine Kochsalzlösung die einzige Medizin ist. Wenn sie keine Tabletten erhalten, glauben die Patienten, dass sie gar nicht behandelt werden. Man muss ihnen erklären, dass man die Cholera-Bakterien allein durch eine Rehydrierung wieder loswird“, erzählt Jean-François Lukinson, der die Aufklärer im Behandlungszentrum beaufsichtigt. „Man muss die Begleitpersonen auch immer wieder daran erinnern, wie wichtig es ist, die Hygieneregeln einzuhalten: wie etwa nach jedem Kontakt die Hände mit chloriertem Wasser zu waschen oder keine Mahlzeiten mit den Patienten zu teilen. Denn am Anfang stellten wir fest, dass auch viele Begleitpersonen erkrankten.“
Eine weitere Möglichkeit zur Sensibilisierung sind die lokalen Medien. Auf den wichtigsten Radiosendern von Cap Haitien und Umgebung laufen immer wieder kurze Spots, in denen auf Kreolisch die wichtigsten Vorbeugemassnahmen erklärt werden. Ausserdem werden Radiosendungen mit Aufklärern und medizinischem Personal durchgeführt, die an die Vorbeugung erinnern und auf Fragen zur Behandlung und Übertragung der Krankheit eingehen. Es geht darum, die Krankheit zu entmystifizieren und die vorgefassten Meinungen und Stigmatisierungen zu durchbrechen. Kranke sollen ermutigt werden, möglichst schnell ein Behandlungszentrum aufzusuchen.
Änderung der Sichtweise
Anfang November war die Pflegestation noch voll von geheilten Patienten, die nicht nachhause gehen wollten, weil ihre Familien Angst hatten, sie würden das ganze Haus anstecken. Nach und nach haben die Menschen aber begriffen, dass das Behandlungszentrum tatsächlich funktioniert. „Als die Leute sahen, dass die Sterblichkeit abnimmt, begriffen sie, dass die Turnhalle nicht ein Ort ist, wo man zum Sterben hinkommt, sondern wo man geheilt wird“, freut sich Hugues Juillerat, der MSF-Verantwortliche des IAK-Programms in Cap Haitien.
Es bleibt noch viel zu tun, bis die Epidemie ganz verschwunden ist, insbesondere in abgelegenen Gebieten. Die Aufklärer schliessen sich jetzt den mobilen MSF Kliniken an, die zu den Ausgabestellen auf dem Land fahren. Nebst der Lieferung von zusätzlichem Material werden hier auch neue Aufklärer rekrutiert und geschult, die wiederum in die Dörfer entsandt werden. Am 1. Dezember eröffnete das MSF Team im Behandlungszentrum von Cap Haitien einen Informationsstand mit drei Mitarbeitern, die den Passanten zeigen, was vorbeugend gemacht werden kann. „Schon in den ersten drei Tagen kamen täglich mehr als 300 Interessierte zum Informationsstand“, berichtet Helmi Mekaoui. „Das zeigt, dass die Menschen mehr wissen wollen.“
Mit dem Aufbau mehrerer neuer Behandlungszentren in den Aussenbezirken der Stadt und der Unterstützung der Gesundheitszentren in ländlichen Gebieten versucht MSF nun, die betroffenen Gemeinden zu erreichen und ihnen einen besseren Zugang zu einer Behandlung zu ermöglichen. Es wurden auch Gesundheitsposten zur oralen Rehydrierung eingerichtet. „Hier können Patienten mit ersten Krankheitssymptomen behandelt werden, und Erkrankte, die weit weg von einem Behandlungszentrum leben, können vorbehandelt werden, damit sie die Reise gut überstehen“, erklärt Narcisse Wega, medizinischer Verantwortlicher in Plaisance. Bei der Ausweitung der Aktivitäten in die nördlichen Regionen Haitis stellt MSF sicher, dass die medizinische Nothilfe auch hier von einer aktiven Aufklärungsarbeit unterstützt wird.