Coronavirus: Ein Interview mit Clair Mills, der medizinischen Leiterin von MSF

Italien. 17.03.2020

5 Min.

Die Covid-19-Pandemie hat, was das Ausmass und die schnelle globale Ausbreitung betrifft, enorme Auswirkungen auf die Gesundheitssysteme in mittlerweile mehr als 100 betroffenen Ländern. Wir von Ärzte ohne Grenzen sorgen uns insbesondere um die Folgen für Länder mit schwächeren Gesundheitssystemen, wenn dort viele Patientinnen und Patienten mit Covid-19 behandelt werden müssen und um Bevölkerungsgruppen, die ohnehin in einem prekären Umfeld leben, wie Obdachlose, Menschen in Flüchtlingslagern oder von Konflikten betroffene Bevölkerungsgruppen. Aber auch die nun von diversen Staaten erlassenen Reisebeschränkungen wirken sich weltweit auf die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen aus.

Welche Fragen stellt sich uns diesem Zusammenhang? Ein Interview mit Clair Mills, der medizinischen Leiterin von Ärzte ohne Grenzen, gibt Antworten darauf.

Ist es richtig, sich vor Covid-19 zu fürchten?

Mehrere Faktoren tragen dazu bei, dass das Virus besorgniserregend ist. Da es sich um ein neues Virus handelt, gibt es bisher keine Immunität dagegen. Bis zu 35 potentielle Impfstoffe befinden sich derzeit in einer Testphase, aber Expertinnen und Experten sind sich einig, dass für mindestens 12 bis 18 Monate kein allgemein verwendbarer Impfstoff zur Verfügung stehen wird. Die Mortalitätsrate, die per Definition nur auf der Grundlage der identifizierten Patienten berechnet werden kann, ist daher derzeit nur schwer zu berechnen. Schätzungsweise liegt diese bei etwa 1%. Bei einem Teil der Erkrankten ist auch vor dem Auftreten von Symptome oder wenn diese sogar ganz ausbleiben, eine Übertragung des Virus möglich. Die überwiegende Mehrheit (etwa 80% der bestätigen Fälle) weisen einen milden Krankheitsverlauf auf, was es schwierig macht, Fälle schnell zu identifizieren und zu isolieren. Zur Bestätigung der Diagnose sind spezielle medizinische Laborverfahren erforderlich, die nur in bestimmten medizinischen Einrichtungen zur Verfügung stehen. Es ist daher nicht überraschend, dass die Eindämmung des Virus, das heute in mehr als 100 Ländern der Welt verbreitet ist, bisher nicht erfolgreich war. Diese Epidemie unterscheidet sich stark von anderen Epidemien wie Masern, Cholera oder Ebola, in deren Bekämpfung Ärzte ohne Grenzen in den letzten Jahrzehnten eine Expertise entwickelt hat.

Ausgehend von den bisherigen Erfahrungen und Daten sind 15-20% der bestätigten Covid-19-Fälle schwerwiegend und die Erkrankten benötigen eine stationäre Behandlung mit spezieller Betreuung. Etwa sechs Prozent der bestätigten Fälle werden einen kritischen Verlauf der Erkrankung aufweisen und erfordern eine spezialisierte Intensivpflege wie etwa mechanische Beatmung für mehrere Wochen. Eine so lange stationäre Versorgung so vieler Menschen mit so hohem Pflegegrad ist selbst für modernste Gesundheitssysteme eine grosse Herausforderung. Das war in China und ist gegenwärtig auch in Italien zu beobachten. Derzeit befinden sich mehr als 1’100 Patientinnen und Patienten auf den Intensivstationen und trotz guter medizinischer Versorgung im Norden des Landes, sind die Spitäler durch den raschen Patientenanstieg überfordert.

Besonders anfällig für eine Ansteckung bei einem solchen Ausbruch ist das medizinische Personal selbst. Zwischen Mitte Januar und Mitte Februar sind in China mehr als 2’000 Mitarbeitende des Gesundheitswesens am Coronavirus erkrankt (3,7% aller Patientinnen und Patienten). Es ist deshalb mit Einschränkungen der medizinischen Grundversorgung und der Notfalleinrichtungen zu rechnen und die Behandlung anderer lebensbedrohlicher sowie chronischen Infektionskrankheiten kann nicht mehr überall gewährleistet werden. Dies trifft vor allem Länder, in denen das Gesundheitssystem ohnehin bereits fragil ist.

Einige sind der Meinung, dass die Massnahmen zur Bekämpfung der Epidemie zu weit greifen und Grenzschliessungen oder Quarantäne womöglich grössere Schäden verursachen als die Krankheit selbst. Ist dies gerechtfertigt?

Auch wenn solche Massnahmen eine Ausbreitung des Virus nicht verhindern können, können diese dessen Ausbreitung zumindest verlangsamen. Dadurch kann die Zahl der schwer erkrankten Patientinnen und Patienten, die vom Gesundheitssystem gleichzeitig abgefedert werden müssen, begrenzt werden. Das Ziel ist nicht nur die Zahl der Erkrankten zu reduzieren, sondern eine zeitlich gleichmässige Verteilung zu erreichen, um somit eine Überlastung der Notfall- und Intensivstationen zu vermeiden.

Wo liegen unsere Prioritäten und welches sind unsere wichtigsten Anliegen?

Unsere Prioritäten variieren je nach Kontext. Das Gesundheitspersonal muss geschützt werden und die Risiken einer möglichen Covid-19-Ausbreitung gilt es so weit wie möglich zu begrenzen. In Ländern wie der Zentralafrikanische Republik, im Südsudan oder Jemen, die von einem Covic-19-Ausbruch noch verschont sind, werden Präventionsprogramme sowie Massnahmen zur Gesundheitsaufklärung und -erziehung durchgeführt. Es wird Seife und Schutzausrüstung an das Gesundheitspersonal verteilt und gefährdete Gebiete oder Bevölkerungsgruppen ermittelt.

Gleichzeitig wollen wir in unseren bestehenden Hilfsprogrammen sicherstellen, dass die Einrichtungen, die wir betrieben oder unterstützen, weiterhin funktionstüchtig bleiben und das Versorgung von an Malaria oder Masern sowie an Atemwegsinfektionen erkrankten Patientinnen und Patienten gewährleistet ist.

Diese Arbeit wird nun aber durch Reiseeinschränkungen, Grenzschliessungen, der Aussetzung bestimmter Flugverbindungen oder der präventiven Isolation für neuankommende Mitarbeitende beeinträchtigt. Glücklicherweise können wir uns in unseren Einsatzländern uns auf unser lokal rekrutiertes Personal verlassen. Das ist eine grosse Stärke von Ärzte ohne Grenzen, da unser Personal vor Ort zu 90% aus lokalen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besteht.

In Ländern, in denen die Gesundheitssysteme robuster sind, aber in denen das Virus besonders wütet, wie in Italien oder im Iran, besteht die grösste Herausforderung darin, eine Überlastung der Spitalpflegekapazitäten zu vermeiden. Hier versuchen wie die nationalen medizinischen Einsatzkräfte einerseits personell zu unterstützen, andererseits können wir helfen, indem wir unsere Erfahrungen bei der Triage und den Kontrollverfahren für Infektionen, die während einer Epidemie erworben wurden, weitergeben. In Norditalien unterstützen wir derzeit vier Spitäler mit Spezialistinnen und Spezialisten für Infektionskrankheiten und Anästhesie sowie mit Pflege- und Logistikpersonal. Im Iran haben wir den Behörden unsere Unterstützung bei der Betreuung von schwer erkrankten Patienten angeboten.

Im Kampf gegen Covid-19 braucht es zwingend entsprechende Schutzausrüstung, insbesondere Gesichtsmasken und Schutzhandschuhe für medizinische Untersuchungen. Die Vorwegnahme oder die Beschlagnahmungen von medizinischer Ausrüstung durch Staaten können zu einem Problem werden. In der aktuellen Situation sollten deshalb solche Ausrüstungen als ein gemeinsames Gut betrachtet werden, das rationell und angemessen genutzt werden sollte und vor allem das Beschäftigen im Gesundheitswesen zugewiesen werden, die dem Virus unmittelbar ausgesetzt sind, wo immer sie sich in der Welt befinden.

Diese Pandemie erfordert deshalb Solidarität nicht nur zwischen den Staaten, sondern auf allen Ebenen. Es braucht die gegenseitige Hilfe, Zusammenarbeit, Transparenz und eine gemeinsame Nutzung von Ressource, um denen zu helfen, die am meisten gefährdet sind.