Der Konflikt verursacht bei den Menschen konstante Angst

Nous aidons de nombreux déplacés qui ont fui des régions où le conflit était plus intense.

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Interview mit Katrin Kisswani, die zwei Monate lang den MSF-Einsatz in Nordsyrien leitete

„Wir waren hauptsächlich in der Gegend um den Jabal Al-Akkrad im Norden des Gouvernements Idlib tätig, einem Bergland nahe der türkischen Grenze. Hier wird zwar nicht ständig und nicht so heftig gekämpft wie im Landesinnern, aber die Lage ist dennoch äusserst explosiv.

Helikopterangriffe

Fast täglich werden manche Dörfer mit Raketen beschossen oder von Helikoptern angegriffen, die mit Sprengstoff und Metallteilen gefüllte Fässer abwerfen. Für die Bevölkerung sind diese Angriffe verheerend – viele Menschen werden durch Granaten verletzt oder erleiden Quetschungen durch einstürzende Gebäude. Die Dörfer liegen in einem herrlichen Hochland und an schönen Tagen spannt sich blauer Himmel bis zu den Bergen am Horizont. Aber die Schönheit trügt, denn gerade an den klaren Tagen tauchen oft Helikopter auf. Einige Male wurden die Fässer mitten auf belebten Plätzen abgeworfen und mehrere Verletzte, auch Frauen und Kinder, wurden in unser Feldspital gebracht. Einem Patienten konnten wir nicht mehr helfen, mehrere Verwundete mussten aufgrund von inneren Verletzungen sofort operiert werden und einer alten Frau mussten wir den von einem Granatsplitter schwer verletzten Fuss amputieren.

Ständige Angst

Aber auch ohne Bomben abzuwerfen, versetzen die Helikopter die Bevölkerung derart in Angst und Schrecken, dass es nicht selten zu Unfällen kommt. Sobald die Menschen das Rotorengeräusch hören, fliehen sie panisch. Motorräder prallen gegen Mauern oder stossen mit Autos zusammen. Einmal wurde uns ein Kind gebracht, das voller Angst vom Dach seines Hauses gesprungen war, als die Helikopter angeflogen kamen. Es war mehrere Meter tief gestürzt, hatte eine Gehirnerschütterung und Schwierigkeiten beim Atmen, aber zum Glück konnten wir ihm helfen.

Patienten kommen in Wellen

Während der Kämpfe oder Angriffe werden häufig mehrere Patienten gleichzeitig gebracht. Oft ist nicht klar, wie viele noch kommen werden und ob wir überhaupt für alle Platz haben. Dann müssen schwierige Entscheidungen getroffen werden. Fängt man einfach an, den ersten Verwundeten zu operieren, in der Hoffnung, dass keiner mit noch schwereren Verletzungen kommt? Oder wartet man mit dem Patienten noch ein bisschen und bereitet alles für eine grosse Welle vor, die dann doch nicht kommt? Diese Situationen gibt es häufig, und es wäre wirklich hilfreich, in solchen Fällen verlässliche Informationen zu bekommen, was überhaupt passiert ist. Aber diese Schwierigkeiten gehören zur Nothilfe in so einem Kontext einfach dazu.
Der Konflikt verursacht bei den Menschen konstante Angst. Oft leisten wir Vertriebenen Beistand, die aus noch heftiger umkämpften Gebieten geflohen sind. Ein normales Leben mit ausreichend Nahrung, Wasser und Brennstoff, mit regelmässigem Schulbesuch und einer positiven Zukunftsperspektive können sich diese Menschen fast nicht mehr vorstellen. Manche Kinder sind depressiv und können weder etwas zu sich nehmen noch schlafen, anderen fehlt es am Allernötigsten. Wir haben Decken, Hygieneartikel und Trinkwasserkanister an die Menschen verteilt und sind ständig mit unseren mobilen Kliniken unterwegs.

Kollaps des Gesundheitssystems

Bei den meisten Patienten, die wir untersuchen, geht es aber um die medizinische Grundversorgung und um chronische Krankheiten wie Bluthochdruck, Herzkrankheiten, Asthma und Diabetes. Die Behandlungsmöglichkeiten dieser Krankheiten haben sich stark verschlechtert, weil das Gesundheitswesen in Syrien grösstenteils zusammengebrochen ist. Wir hatten einen Krebspatienten bei uns, der sich eigentlich einer Chemotherapie unterziehen sollte. Er war schon im finalen Stadium, und das Einzige, was wir noch für ihn tun konnten, war, seine Schmerzen zu lindern. Auch bei der Mutter-Kind-Versorgung gibt es massive Lücken. Für schwangere Frauen gibt es eigentlich gar keine Anlaufstellen mehr. Oft sind sie gezwungen, das Kind zuhause zur Welt zu bringen, zumindest wenn sie das Glück haben, eine Hebamme oder traditionelle Geburtshelferin zu finden. Diese Fälle nehmen ständig zu. Immer wieder leisten wir Beistand bei normalen Geburten, führen nötigenfalls aber auch Kaiserschnitte durch.
Wenn wir nicht die Möglichkeiten haben, jemanden zu behandeln, überweisen wir die Patienten an Spitäler in der Türkei und organisieren auch den Transport, was oft sehr aufwändig ist.

MSF wird gebraucht

MSF hat sich in Syrien zunächst auf die Versorgung der Kriegsverletzten konzentriert, und dies macht auch heute noch den Grossteil unserer Arbeit aus. Mittlerweile dauert der Konflikt aber schon zwei Jahre und das Gesundheitssystem ist in vielen Gebieten praktisch nicht mehr vorhanden, so dass die Leute nicht einmal mit dem Nötigsten versorgt sind. Nach und nach bauen wir in unseren Einsatzgebieten eine medizinische Grundversorgung auf, doch der Bedarf ist tatsächlich enorm. MSF wird hier dringend gebraucht. Und wir haben noch sehr viel zu tun.“