“Die Behandlung von Tuberkulosekranken wird immer schwieriger”

 Le Dr Andrei Slavuckij soignant un patient, Kirghizstan, 2010

6 Min.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die Tuberkulose wieder stark verbreitet. Besonders besorgniserregend ist dabei der Anstieg der resistenten Krankheitsform. Dr. Andrei Slavuckij erklärt.

Die ehemalige Sowjetunion gehört zu den am stärksten von Tuberkulose (TB) betroffenen Regionen der Welt. Gemäss Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO sehen sich die ehemaligen Staaten der Sowjetunion ausserdem mit einer beträchtlichen Anzahl von multiresistenter Tuberkulose (MDR-TB) konfrontiert. Diese Form der Krankheit ist verantwortlich für die 28 Prozent Neuansteckungen in gewissen betroffenen Gebieten – was einem neuen Rekord entspricht. Von 1995 bis 2003 behandelte MSF Tuberkulosepatienten in sibirischen Gefängnissen und ist seit 2006 in Kirgisistan aktiv.

Dr Andrei Slavuckij hat die Entwicklung der Krankheit in der ehemaligen Sowjetunion in den vergangenen zehn Jahren aufmerksam verfolgt. Seine ärztliche Ausbildung absolvierte er in Litauen und stiess 1991 zum Noteinsatz-Team von MSF. Im Jahr 2000 wurde er medizinischer Koordinator in Russland, wo er ein TB-Projekt in Sibirien betreute, wonach er zum Verantwortlichen der MSF-Projekte in Kirgisistan ernannt wurde. Kürzlich trat er der medizinischen Abteilung von MSF in Genf als stellvertretender Direktor bei.

Weshalb sind die ehemaligen Sowjetstaaten so stark von der Tuberkulose betroffen?

Andrei Slavuckij: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 hat sich das Gesundheitssystem stetig verschlechert, die Armut der Bevölkerung nahm zu. Armut begünstigt das Vorkommen von TB enorm, da es sich um eine Krankheit handelt, von der die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft am stärksten betroffen sind: die Arbeitslosen, Obdachlosen, Drogenabhängigen und natürlich die Gefängnisinsassen. Wenn jedoch die Epidemie einen gewissen Grad erreicht hat, eskaliert die Ausbreitung von TB und jedermann – ungeachtet des sozialen Status – kann sich mit der Krankheit infizieren.

Zu sowjetischen Zeiten war es hauptsächlich der Staat, der die Bekämpfung von TB finanzierte. Denn die Krankheit war ein Zeichen von sozialer Unruhe, was unakzeptabel war in einem sozialistischen Staat, der sich als entwickeltes Land bezeichnete. Die Patienten blieben so lange im Spital, bis die Behandlung abgeschlossen war, durften Sanatorien besuchen, erhielten eine Entschädigung und die Garantie, an ihre Arbeitsstelle zurückkehren zu können. Den chronisch Kranken wurde sogar eine Wohnung zur Verfügung gestellt. Als jedoch nach 1991 der Staat für diese Behandlungen nicht mehr aufkommen konnte, hat es das Gesundheitswesen verpasst, die Behandlung den neuen Bedingungen anzupassen. Anstatt dass man sich darauf konzentrierte, den Zugang zu qualitativ hochwertigen Medikamenten sicherzustellen, wurde die kostspielige Infrastruktur der Sowjetunion weitergeführt.

Warum steht die Behandlung von Gefangenen im Zentrum und nicht die der Allgemeinbevölkerung?

Die Gefangenen sind einem besonders hohen Risiko ausgesetzt: Die Tuberkulose ist eine der am meisten verbreiteten Krankheiten in Gefängnissen. Faktoren wie fehlender Rückzugsraum, schlechte hygienische Verhältnisse, mangelnde Ernährung, Überbelegung und Stress begünstigen allesamt die Ausbreitung der Krankheit.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion stieg die Zahl der Gefängnisinsassen beträchtlich: Die allgemeine Verschlechterung der Lebensbedingungen führte zu einem Anstieg der Kriminalität, und da selbst Bagatelldelikte wie einfacher Diebstahl mit mehreren Jahren Gefängnis bestraft wurden, entwickelten sich Gefängnisse rasch zu überfüllten Brutstätten von Tuberkulose.

Das Nachlassen der Industrieproduktion im Zusammenhang mit dem Niedergang der UdSSR hatte zudem Engpässe bei Medikamenten zur Folge, was sich nicht nur auf die Allgemeinbevölkerung auswirkte, sondern auch auf die Gefängnisinsassen. Ohne angemessene Behandlung entwickelten diese TB-Patienten überdurchschnittlich hohe Resistenzen gegen die Medikamente. Da sie schliesslich nach ihrer Entlassung nicht mehr überwacht wurden, trugen sie so zur Ausbreitung der Krankheit bei, einschliesslich der besonders resistenten Formen.

Was konnte mit dem MSF-Projekt in kirgisischen Gefängnissen erreicht werden?

In Zusammenarbeit mit dem Gesundheitssystem des Gefängnisses hat MSF im Jahr 2010 über 300 Fälle von TB ermittelt; zu Beginn unseres Projekt im Jahr 2006 waren es noch über 700. Dieser Rückgang widerspiegelt wahrscheinlich die geringere Zahl von Gefangenen insgesamt, die auf von den kirgisischen Behörden vorgenommenen Strafrechts- und Gefängnisreformen zurückzuführen ist.

Leider stellen uns die heutigen Formen der Krankheit vor immer grössere Herausforderungen. Es verhält sich wie bei Antibiotika, die wirkungslos werden, wenn sie nicht regelmässig eingenommen werden und anschliessend resistente Stämme der Krankheit entwicklen, die sie eigentlich hätten bekämpfen sollen: Zwei Drittel der Neuerkrankten sprechen auf mindestens eines der First-line-Medikamente nicht an, und ein Drittel steckt sich mit der multiresistenten Tuberkulose an.

Bei TB-Erregern, die auf First-Line-Medikamente reagieren, dauert die Behandlung zwischen sechs und acht Monaten, und die Heilungsrate liegt bei 98 Prozent. Im Fall der multirestistenten Krankheitsform hingegen zieht sich die Behandlung über zwei Jahre hinweg, und die Heilungsrate kann weniger als 70 Prozent betragen. Zudem stellen wir fest, dass sich eine zunehmende Anzahl von Patienten direkt mit der multiresistenten Tuberkulose anstecken, ohne zuvor unter der nicht-resistenten Krankheit gelitten zu haben.

Es gibt keine genauen Zahlen, die für das ganze Land gelten, man schätzt jedoch, dass es sich bei 20 Prozent der Neuansteckungen in Kirgisistan um multiresistente Tuberkulose handelt. Diese „Epidemie innerhalb einer Epidemie“ ist ein sehr ernst zu nehmendes Problem und ist auch in anderen ehemaligen Sowjetstaaten Anlass zur Sorge.

Welches sind die grössten Herausforderungen für MSF in Kirgisistan?

Die grösste Herausforderung ist der Kampf gegen die multiresistente Tuberkulose. Zudem sind 14 Prozent der an TB erkrankten Personen zugleich mit HIV/AIDS infiziert, und die Mehrheit leidet zudem unter einer Form von Hepatitits, was die Behandlung zusätzlich erschwert.

Die erweiterte TB-Therapie umfasst zwei Jahre medikamentöse Behandlung. Allein diese lange Dauer macht die Vollendung der Behandlung schwierig. Erschwerend dazu kommen die äusserst starken Nebenwirkungen der Medikamente. Bei Gefängnisinsassen ist das Risiko eines Unterbruchs der Behandlung noch grösser, wenn sie beispielsweise für einen Gerichtstermin in ein anderes Gefängnis verlegt oder wenn sie entlassen werden.

Bei der Rückkehr ins Zivilleben schliesslich benötigen unsere Patienten soziale Unterstützung, ohne die sie ihre Behandlung nicht fortsetzen können. Wir unternehmen grosse Anstrengungen, um aus dem Gefängnis entlassene TB-Patienten aufzuspüren und mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Wir streben die Zusammenarbeit mit einer kirgisischen Nichtregierungsorganisation an, die allmählich die Nachbehandlung dieser Patienten für uns übernehmen soll.

Wie geht es weiter mit dem Tuberkuloseprojekt von MSF in Kirgisistan?

Wir beabsichtigen, im Süden des Landes ein speziell auf Tuberkulose ausgerichtetes Gesundheitsprojekt für die Zivilbevölkerung zu lancieren. Der Startschuss dazu wird hoffentlich nächsten Sommer sein. In einem Gefängnis im Norden des Landes wird MSF seine derzeitigen Aktivitäten allmählich ans IKRK übergeben, das bereits in einem anderen Gefängnis ein Tuberkuloseprojekt betreut. Wir wollen uns vorallem auf abgelegene Gefängnisse konzentrieren, wo noch viel Arbeit vor uns liegt, bevor wir Tuberkulosefälle auf systematische Weise und so schnell wie möglich feststellen können. Und schliesslich werden wir nach wie vor ehemalige Gefangene mit Tuberkulose betreuen.

MSF und Tuberkulose

Im Jahr 2010 hat MSF in 29 Ländern nahezu 30’000 Tuberkuloskranke behandelt, davon 1’000 Patienten mit resistenter TB (DR-TB). Die MSF-Projekte, welche die Bekämpfung von DR-TB zum Ziel haben, umfassen sowohl Gefängnisse in Kirgisistan wie auch indische Grossstädte sowie HIV-Hochburgen wie Swaziland und Südafrika. Die von MSF entwickelten Therapien sind an das jeweilige Umfeld angepasst und fördern eine ambulante, in die Gemeinschaft integrierte Behandlung. Dies soll die Patienten zum Durchhalten ermutigen und ihnen die Behandlung erträglicher machen.

Da die Epidemie von Region zu Region variert, wird MSF vermehrt differenzierte Ansätze verfolgen. Vom 14. bis 16. April 2011 veranstaltet MSF in Tashkent (Usbekistan) ein Symposium mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit auf die wachsenden Herausforderungen zu lenken, die mit TB und MDR-TB in der ehemaligen Sowjetunion einhergehen, und die Zusammenarbeit von verschiedenen Organisation in der Region zu verbessern.