«Es macht keinen Sinn, die Mangelernährung weiterhin separat zu behandeln»

Aujourd’hui, à MSF, nous sommes d’avis que traiter séparément la malnutrition et les autres pathologies devient obsolète.

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Vor dem Hintergrund der Ernährungskrise in der Sahelzone ist Dr. Jean-Clément Cabrol, operationeller Direktor von MSF Schweiz, in den Niger gereist, um die Projekte der Organisation im Süden des Landes zu besuchen.

Er fordert einen neuen Ansatz bei der Behandlung der Kinder, die Opfer der chronischen Ernährungsunsicherheit sind.

Kann man im Niger von einer Ernährungskrise sprechen?

Dr. Jean-Clément Cabrol: Wenn man davon ausgeht, dass es sich bei einer Ernährungskrise um eine aussergewöhnliche Situation handeln muss, ist das hier nicht der Fall. Im Niger sind die Probleme des Zugangs zur Nahrung, die eine erhebliche Mangelernährung verursachen, leider nicht neu. Im Jahr 2011, das nicht als Krisenjahr galt, wurden im ganzen Niger von MSF und anderen humanitären Akteuren mehr als 300’000 stark mangelernährte Kinder behandelt. Dieses Jahr könnte diese Zahl auf 390’000 ansteigen.
Im Jahr 2012 haben zusätzliche Faktoren die chronische Ernährungsunsicherheit verschärft: der Anstieg der Lebensmittelpreise, die Folgen der Rückkehr vieler nigerianischer Arbeiter, die von Libyen aus Geld nach Hause geschickt hatten, der vorzeitige Beginn der Regenzeit, der eine Zunahme der Malariafälle verursachte, sowie der Zustrom malischer Flüchtlinge, der eine leidgeprüfte Bevölkerung zusätzlich beansprucht.

Wie kann man auf eine solche Situation reagieren?

Dank der neuen gebrauchsfertigen therapeutischen Nahrungsmittel, die seit Beginn der 2000er Jahre entwickelt wurden, müssen die mangelernährten Kinder ohne Komplikationen nicht mehr hospitalisiert werden. Sie können zu Hause von der eigenen Mutter gepflegt werden. Dadurch ist die Zahl der behandelten Kinder massiv angestiegen. Es wäre für das nigrische Gesundheitssystem unmöglich, 390’000 Kinder im Spital zu behandeln. MSF hat sich unermüdlich dafür eingesetzt, dass die grossen Organe der UNO, wie UNICEF oder das Welternährungsprogramm (WFP), diese für Kinder geeigneten Lebensmittel verwenden. Sie werden auf der Basis einer Erdnusspaste hergestellt, die mit für das Wachstum notwendigen Milchproteinen, Vitaminen und Mineralsalzen angereichert wurde.
Kürzlich haben wir präventiv Verteilungen durchgeführt mit dem Ziel, die Ernährung von Kindern unter fünf Jahren soweit zu ergänzen, dass sie vor Mangelernährung geschützt sind. Wir setzen auch vermehrt auf dezentralisierte Ansätze innerhalb der Gemeinschaften: So können nun in den Dörfern von MSF ausgebildete Helfer sich um die mangelernährten Kindern kümmern, vor allem mit der Abgabe von gebrauchsfertiger therapeutischen Nahrung. Dadurch können die Patienten kostengünstiger behandelt und die Gesundheitsstrukturen entlastet werden. Die Kinder werden ins nächste Intensivbehandlungszentrum verwiesen, wenn sich ihr Zustand verschlechtert oder wenn sie weitere Beschwerden haben.

Wie sehen Sie die Bekämpfung der Mangelernährung in Zukunft?

Ich plädiere dafür, dass man ausserhalb von Notsituationen über einen rein ernährungstechnischen Ansatz hinausgeht. Es muss bei verschiedenen Ursachen der Kindersterblichkeit gehandelt werden: bei Malaria, Durchfall- oder Atemwegserkrankungen und nicht nur bei Mangelernährung. Denn ein krankes Kind hat ein viel grösseres Risiko, mangelernährt zu werden. Daher kümmern sich die lokalen Gesundheitshelfer nicht nur um die Mangelernährung, sondern sind auch in der Lage, Fälle von einfacher Malaria zu erkennen und behandeln.
Die Gesundheit der Mütter und Kinder insgesamt sollte auch vermehrt in unsere medizinischen und präventiven Strategien integriert werden. Wenn zum Beispiel eine Mutter zur Schwangerschaftskontrolle kommt, müsste man systematisch davon profitieren, ihre anderen Kinder zu impfen und eine allfällige Mangelernährung zu erkennen. Heute sind wir bei MSF der Meinung, dass es keinen Sinn macht, die Mangelernährung und die anderen Leiden separat zu behandeln.
MSF und ihre Partner – die lokalen medizinischen Organisationen Forum Santé Niger (FORSANI) und Bien-Être de la Femme et de l’Enfant au Niger - BEFEN (etwa „Für das Wohl von Frauen und Kindern im Niger") sowie die internationale NGO ALIMA – arbeiten bei Ernährungsprogrammen für Kinder, bei der pädiatrischen Versorgung und der Geburtshilfe sehr eng mit dem Gesundheitsministerium zusammen. Die Teams sind dazu in verschiedenen Gesundheitszentren und Spitälern im Niger tätig. MSF leistet auch medizinische Hilfe für malische Flüchtlinge. Seit Beginn des Jahres 2012 hat MSF im Niger nahezu 38'000 mangelernährte Kinder behandelt.