Evakuierung von libyschen Kriegsverletzen: „Der Einsatz wäre um ein Haar nicht geglückt“
4 Min.
Am 15. April evakuierte MSF 64 Kriegsverletzte per Schiff aus der belagerten Stadt Misrata. Die Pflegefachfrau Alison Criado-Perez war mit an Bord. Sie erzählt von ihren Erfahrungen.
Bereits Anfang April waren 71 Patienten erfolgreich aus dem zerstörten Misrata evakuiert worden. Im Wissen, dass die täglichen Bombenangriffe unzählige weitere Opfer und überfüllte Spitäler zur Folge hatten, beschloss MSF, eine zweite Evakuierung per Schiff durchzuführen. Ein Einsatz, der fast nicht zustande gekommen wäre.
Aufgrund der schlechten Wettervorhersagen verschoben wir unsere Reise um einige Tage. Doch als es soweit war, hielten uns hunderte tunesische Fischer, die gegen zu hohe Treibstoffkosten protestierten, davon ab, den Hafen von Sfax zu verlassen.
24 Stunden später konnten wir endlich nach Misrata aufbrechen. In wenigen Stunden hatten wir die Fähre für die Patientenevakuierung vorbereitet: eine kleine Intensivstation mit Überwachungsmonitoren, Sauerstoffbomben und Beatmungsgeräten, im Falle von stürmischer See entsprechend gesichert, war im Nu entstanden. Das restliche Material und die Medikamente hatten wir so organisiert, dass alles stets in greifbarer Nähe war. Dann legten wir ein paar Matratzen auf den Boden und versuchten, ein paar Stunden zu schlafen.
Als wir uns in internationalen Gewässern, etwa 20 Seemeilen vor Misrata befanden, erfuhren wir, dass der Hafen gerade bombardiert werde. „Ich kann die Explosionen übers Satellitentelefon hören“, sagte Andrei. „Es ist gefährlich, jetzt in den Hafen zu fahren.“ Schweren Herzens und in Gedanken an die Toten und Verletzten, die unsere Hilfe brauchten, beschlossen wir, nach Malta zu fahren. Wir hatten nicht genügend Treibstoff, um noch länger zu warten. In Malta würden wir auftanken und einen Tag später wieder kommen.
Wer darf mit – wen lassen wir zurück?
Am nächsten Morgen in Misrata war die Situation optimal: die Bombenangriffe waren gerade eingestellt worden, wir konnten im Hafen anlegen und mit der Evakuierung beginnen. Als die Ambulanzen allmählich eintrafen und der schwierige Prozess der Triage durchgeführt wurde – wer darf mit, wen lassen wir zurück –, ergriffen ein Arzt und ein Logistiker unseres Teams die Chance, um an Land zu gehen und die Lage in den städtischen Gesundheitseinrichtungen zu evaluieren. „Das Hauptspital wurde von den Bomben getroffen, doch es wird noch immer benutzt, so auch die anderen Kliniken“, berichtete uns Dr. Morten Rostrup. „Es gibt zu wenig erfahrene Ärzte und Pflegepersonal, und die Reserven an medizinischem Material und Medikamenten sind bald aufgebraucht. Die Spitäler sind deshalb vollkommen auf Hilfe von aussen angewiesen. Wasser ist Mangelware und zudem verschmutzt, Elektrizität gibt es nur sporadisch“, erzählte er.
Ich weinte zusammen mit einer Mutter, als sie sich von ihrem Sohn verabschiedete, der in Lebensgefahr schwebte. Ich fragte mich, warum sie ihn nicht begleitete. Doch schon kurz darauf ging die Reise los, mit zehn Schwerverletzten und 54 weiteren
Patienten, die unsere medizinische Hilfe brauchten.
Eine bewegte Überfahrt mit unverhofftem Ziel
Als ich um drei Uhr morgens versuchte, ein wenig zu schlafen, hörte ich die Wellen, die an die Luken des oberen Decks klatschten, wo unsere Erholungszone war. Die See wurde immer stürmischer, die Wellen waren schon etwa 2,5 Meter hoch. Da sagte Andrei zu mir: „Der Captain hat gesagt, es sei zu gefährlich nach Sfax weiterzufahren. Wir müssen den Kurs ändern, damit die Überfahrt ruhiger wird. Wir können nicht nach Sfax.“ Der Sturm dauerte drei Stunden, und auf dem Weg nach Sfax wurden noch schlimmere Unwetter erwartet. Wir beschlossen, in Zarzis zu halten um die Patienten in Sicherheit zu bringen. Viele von ihnen waren durch den Sturm geschüttelt worden und hatten grosse Schmerzen. Wir mussten uns neben die Patienten legen, um sie zu betreuen, insbesondere um sicherzustellen, dass die beatmeten Patienten an den Geräten angeschlossen blieben.
Das waren schlechte Nachrichten: In Sfax erwarteten uns 24 Ambulanzen, um die Patienten vor Ort ins Spital zu bringen. In Zarzis wartete niemand auf uns. Wir würden völlig unvorbereitet im kleineren Hafen von Zarzis anlegen müssen.
Endlich waren die kritischsten Patienten untergebracht. Nun mussten wir Spitäler finden, welche die übrigen 60 Verletzten aufnehmen konnten. Der Prozess nahm viel Zeit in Anspruch; nachdem wir bereits einen Tag und eine Nacht unterwegs gewesen waren, gingen uns langsam, aber sicher die Kräfte aus.
Als ich einen jungen Mann, Adbelmajid, in die Ambulanz begleitete, versuchte er mir mit schmerzverzerrtem Gesicht etwas zu sagen. Er deutete mit einer Geste auf seine Augen. „Was sagt er?”, fragte ich die Rettungssanitäterin. „Er sagt, er wird dich wiedersehen“, antwortete sie. Ich hoffte, dass er recht hatte.
Am Patientenbett
Ein paar Tage später besuchte ich mit meiner Teamkollegin Kate die Spitäler in den verschiedenen Orten, wo unsere Patienten eingewiesen worden waren. Wir wurden mit Jubel und Lachen begrüsst, und immer wieder dankten sie uns. Fast allen schien es besser zu gehen: nur ein Mann befand sich immer noch in kritischem Zustand. Doch wo war Abdelmajid? Wir waren im letzten Spital angelangt und hatten soeben die letzte Abteilung besucht. „Ein Patient ist noch auf der Intensivstation“, informierte uns der tunesische Chirurg. Ich hielt meinen Atem, als ich das Zimmer betrat. Und da lag er, immer noch schwach, aber am Leben, auf dem Weg der Besserung. Er lächelte, als er uns sah.
An diesem Abend standen wir auf der Terrasse unseres Hauses in Zarzis und sahen den Mondschein, der sich auf der Meeresoberfläche spiegelte, im Vordergrund die Silhouetten von Palmen. Die Stimmung war sehr friedlich.
“Das Paradies ist manchmal nicht weit von der Hölle entfernt”, sagte Andrei.
Von Alison Criado-Perez