Gazastreifen: Ein Lagebericht von Léo Cans, unserem Einsatzleiter vor Ort
© MSF
Palästinensische Autonomiegebiete4 Min.
Seit Beginn der israelischen Offensive, die auf den brutalen Überfall und die Massaker der Hamas am 7. Oktober folgte, wird der Gazastreifen ohne Unterlass bombardiert. Die Teams von Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF), die dauerhaft in palästinensischen Gebieten arbeiten, haben in dieser äusserst unsicheren Situation Mühe, medizinische Versorgung bereitzustellen. Léo Cans, unser Einsatzleiter vor Ort berichtet über die Situation. Er ist der Meinung, dass die Kriegserklärung unter keinen Umständen zu einer kollektiven Bestrafung der Bevölkerung im Gazastreifen führen darf.
Lagebericht von Léo Cans, Einsatzleiter vor Ort
Die Lage in Gaza ist katastrophal. Die Spitäler des Gazastreifens sind mit dem unablässigen Zustrom von Verletzten komplett überfordert. Die medizinischen Teams arbeiten rund um die Uhr, sie sind erschöpft. Infolge der intensiven Luftangriffe wurden Wohnhäuser zerstört – in der letzten Nacht befanden sich einige Ziele ganz in der Nähe des Büros von Ärzte ohne Grenzen.
Die Menschen vor Ort erhalten mitten in der Nacht per SMS die Anweisung, ihre Häuser zu verlassen. Das ist einigen unserer Mitarbeitenden selbst passiert. Für sie bedeutete das, die Kinder aus dem Schlaf zu reissen, um sich so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen. Zeit, um ihre Sachen mitzunehmen, blieb ihnen nicht. Häufig wissen die Betroffenen nicht, wohin. Mitten in der Nacht sind sie dann schutzlos den Bombardements ausgeliefert.
Letzten Schätzungen zufolge beläuft sich die Zahl der Vertriebenen auf etwa 200 000. Die meisten von ihnen haben Anweisungen per SMS erhalten, ehe ihre Häuser zerstört wurden. Sie haben weder Wasser oder einen Ort, um sich zu waschen, noch Essen, Matratzen oder Schlafzeug usw. Es fehlt ihnen an grundlegenden Dingen. Die israelische Regierung hat ausserdem beschlossen, die Wasser- und Stromversorgung komplett zu unterbinden, und auch die Telefonleitungen wurden beschädigt. Heute Morgen (10. Oktober) war es beispielsweise unmöglich, unsere Teams vor Ort telefonisch zu erreichen. All dies erschwert die Koordination der Nothilfe und den Zugang zu den Verletzten.
In Gaza herrscht allgemeine Panik. Ich spreche regelmässig mit unseren Mitarbeitenden vor Ort. Diese Menschen haben sich aufgrund der gewaltsamen Konflikte, denen sie seit langem ausgesetzt sind, eine Art Schutzpanzer zugelegt, aber das, was gerade passiert, hat auch sie in Angst versetzt. Sie sagen, diesmal sei es anders. Sie stehen unter extremem psychischem Stress, sehen keinen Ausweg und fragen sich, wie das alles enden wird. Ich weiss gar nicht, wie man das beschreiben soll, was diese Menschen gerade durchmachen.
Nicht einmal mehr medizinische Einrichtungen werden verschont. Eines der von uns unterstützten Spitäler wurde aus der Luft angegriffen und beschädigt. Ein weiterer Luftangriff traf einen Krankenwagen vor dem Spital, in dem wir arbeiten. Darin befanden sich Patient:innen, die gerade eingeliefert werden sollten. Unser chirurgisches Team war gezwungen, eine Operation abzubrechen, um aus dem Spital zu flüchten. Einmal mehr müssen wir daran erinnern, dass medizinische Einrichtungen unversehrt bleiben müssen – das ist nicht verhandelbar.
Bisher hat Ärzte ohne Grenzen den grössten Spitälern im Gazastreifen grundlegendes medizinisches Material und Medikamente gespendet. Darüber hinaus unterstützen wir zwei Spitäler, in denen unsere Teams bei der chirurgischen Versorgung von Verletzten helfen. Dazu kommen die chirurgische Nachversorgung und Folgeoperationen, die die meisten Verletzten benötigen, um zu überleben. Verletzte, die keine Operation benötigen, erhalten Hilfe in einer von uns eingerichteten Klinik im Stadtzentrum von Gaza. Wir hoffen, dass wir dieses weiterhin betreiben können.
Gestern früh wurde ein 13-jähriger Junge eingeliefert, der fast am ganzen Körper Verbrennungen erlitten hatte. Eine Rakete war neben seinem Haus eingeschlagen und hatte einen Brand ausgelöst. Das sind schon unter normalen Bedingungen sehr komplizierte medizinische Fälle – und wenn es sich obendrein um Kinder handelt, ist es noch unerträglicher.
Das Ausmass der Gewalt und die Schärfe der Bombardements sind schockierend, ganz zu schweigen von der hohen Anzahl der Toten bisher. Die Kriegserklärung darf unter keinen Umständen als Vorwand für eine kollektive Bestrafung der Bevölkerung im Gazastreifen dienen. Die Unterbrechung der Wasser-, Strom- und Treibstoffversorgung ist nicht hinnehmbar, weil sie wahllos die gesamte Bevölkerung trifft, die so von der Grundversorgung abgeschnitten wird.
Ärzte ohne Grenzen ist seit 1989 in den Palästinensischen Gebieten tätig und bietet dort medizinische und psychologische Hilfe für die Menschen an. Nach der jüngsten Eskalation der Gewalt unterstützen unsere Teams, die in Gaza bereits in regulären Projekten gearbeitet haben, vier Spitäler bei der Behandlung von Verwundeten und mit Materialspenden.
Gemäss ihrer Charta leistet die Organisation dort medizinische Hilfe, wo Menschen sonst keinen ausreichenden Zugang zu einer angemessenen medizinischen Versorgung haben, unabhängig von der Herkunft, politischen Überzeugung oder ethnischen Zugehörigkeit der Menschen. Ärzte ohne Grenzen verpflichtet sich der medizinischen Ethik und den humanitären Prinzipien der Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit.
© MSF