Haiti: Gesundheitsversorgung beim Wiederaufbau nicht ausreichend berücksichtigt
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Fünf Jahre sind vergangen, seit das verheerende Erdbeben im Januar 2010 Haiti erschütterte. Rund drei Millionen Menschen waren davon betroffen; laut Schätzungen der Behörden forderte die Naturkatastrophe 220‘000 Todesopfer.
Der Landeskoordinator von Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) schildert die gegenwärtige Lage in Haiti und berichtet über die aktuellen Projekte der Organisation vor Ort.
Wie ist die medizinische und humanitäre Situation heute in Haiti?
Bevor wir die aktuelle Lage betrachten, müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass am 12. Januar 2010 60 Prozent des ohnehin angeschlagenen Gesundheitssystems mit einem Schlag zerstört wurden. Darüber hinaus wurden zehn Prozent der haitianischen Gesundheitsfachkräfte entweder getötet oder verliessen in Folge das Land. Das Ganze war schlicht und ergreifend eine Katastrophe. MSF musste die Aktivitäten in andere Einrichtungen verlegen, baute Behelfsspitäler aus Containern, arbeitete in behelfsmässigen Einrichtungen und errichte eine aufblasbare Klinik. Wir waren 2010 bereits seit 19 Jahren in Haiti tätig und versuchten, Lücken im Gesundheitswesen zu schliessen. Die meisten Gesundheitssysteme hätten mit einem solch katastrophalen Ereignis zu kämpfen, doch jenes in Haiti stand bereits zuvor unter starkem Druck.
Viele Haitianer haben noch immer keinen Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung. Um nur ein Beispiel zu nennen: Das Universitätsspital HUEH („Hôpital de l’Université d’Etat d’Haiti“), das einzige öffentliche Krankenhaus im Land, das orthopädische Chirurgie anbietet, ist noch immer nicht vollständig wiederaufgebaut. Es kann daher nicht in voller Kapazität arbeiten. Darüber hinaus wurde zwar Geld für den Bau neuer Spitäler investiert, doch einige – wie jenes in Carrefour – stehen leer. Denn es wurde nicht daran gedacht, auch dafür zu sorgen, dass genügend Fachkräfte sowie Medikamente und medizinisches Material zur Verfügung stehen oder Wartungsarbeiten durchgeführt werden können.
Inwiefern haben Spendengelder die Situation verbessert?
Es ist nicht unsere Aufgabe, die Ergebnisse des enormen Zuflusses an Spendengeldern ins Land nachzuverfolgen. Es sind zwar durchaus Fortschritte zu verzeichnen. Doch weder die massiven Geldströme nach dem Erdbeben noch die Absichten, ein „besseres“ Haiti aufzubauen, führten dazu, dass die Gesundheitsversorgung einen höheren Stellenwert erhielt. Es ist auch richtig, dass MSF dank Aktivitäten anderer Akteure und Wiederaufbaumassnahmen die Nothilfe-Projekte nach dem Erdbeben allmählich reduzieren konnte. Doch wir füllen weiterhin kritische Lücken im haitianischen Gesundheitswesen. Diese Lücken würden vielleicht nicht mehr bestehen, wenn manche der Wiederaufbau-Projekte besser geplant gewesen wären.
Was sind die Prioritäten von MSF in Haiti?
MSF betreibt weiterhin vier Spitäler im Erdbebengebiet um Port-au-Prince und Léogâne. Dort werden chirurgische Notfallversorgung, Geburtshilfe, die Versorgung von Neugeborenen und die Behandlung schwerer Brandwunden angeboten. Trotz der verbreiteten Gewalt in den Städten, trotz häufiger schwerer Verkehrsunfälle und des dramatischen Anstiegs von Unfallopfern – in zehn Jahren verdoppelte sich die Zahl der Unfalltoten – gibt es praktisch keine unfallchirurgische Versorgung. Im Jahr 2014 hat MSF allein im Spital in Tabarre 1‘325 Patienten mit gewaltbedingten und fast 6‘500 mit unfallbedingten Verletzungen behandelt. Durchschnittlich wurden pro Monat 130 Operationen durchgeführt. MSF betreibt zudem die einzige grössere Station für Brandverletzungen im ganzen Land, obschon die Brandrisiken aufgrund der engen und prekären Lebensbedingungen hoch sind.
Unsere zweite Priorität gilt der Behandlung von Cholera-Patienten, bis das haitianische Gesundheitsministerium diese Aufgabe übernehmen kann. Auch vier Jahre nach dem Ausbruch der Krankheit ist der Notfallschutz gegen Cholera weiterhin ungenügend.
Es sollte der haitianischen Regierung und den Geldgebern klar sein, dass es mindestens mittelfristig weitere Choleraausbrüche geben wird. Dennoch gerieten die Notfallmassnahmen beim jüngsten Ausbruch im vergangenen Herbst schnell ins Stocken, weil die nötigen Gelder nicht schnell genug freigegeben wurden. MSF musste erneut einspringen, eigene Cholera-Behandlungszentren aufbauen und das Gesundheitsministeriums bei der Behandlung der Erkrankten finanziell unterstützen. Im letzten Jahr hat MSF insgesamt mehr als 5‘600 Patienten mit Cholerasymptomen behandelt – mehr als die Hälfte davon während des Höhepunkts des Ausbruchs zwischen Mitte Oktober und Mitte November.
Es gibt derzeit kein angemessenes Notfallsystem, trotz des Nationalen Plans zur Eliminierung der Cholera. Die haitianischen Behörden müssen zusammen mit ihren internationalen Partnern einen Notfallschutz bereitstellen und rasch Cholera-Behandlungszentren in ihre Gesundheitseinrichtungen integrieren.
Was muss in Haiti noch getan werden?
Gesundheit und medizinische Versorgung sollten für die haitianischen Behörden und deren internationale Partner eine viel grössere Priorität haben. Für Gesundheitsversorgung steht wenig Geld zur Verfügung, und generell ist im Gesundheitswesen ein Übergang von der akuten medizinischen Nothilfe hin zu stärker entwicklungspolitischen Ansätzen zu beobachten. Für den Aufbau eines funktionsfähigen Gesundheitssystems ist dies zwar unabdingbar, darf aber nicht zu Lasten der Kapazitäten gehen, die nach wie vor nötig sind, um auf aktuelle Krisen reagieren zu können. Finanzierungsmechanismen müssen ermöglichen, dass im Falle einer akuten Krisensituation – wie zum Beispiel einem Cholera-Ausbruch –, zeitnah Gelder zur Verfügung zu stehen. Ausserdem ist mehr Kohärenz in der Planung des Wiederaufbaus erforderlich. Es darf nicht sein, dass Spitäler gebaut werden, ohne dass feststeht, woher das Personal, die Ausrüstung und ein Budget für dieses Spital kommen soll. Genau das ist aber in der Vergangenheit mehrmals der Fall gewesen.
Nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti im Jahr 2010 leistete MSF medizinische Soforthilfe vor Ort. Die Teams behandelten in den ersten zehn Monaten rund 360‘000 Patienten, führten mehr als 15‘000 chirurgische Eingriffe durch und verteilten mehr als 50‘000 Zelte sowie 500‘000 Kubikmeter Wasser pro Tag. Derzeit betreibt die Organisation vier Spitäler in Haiti und bietet dort Unfallchirurgie und Geburtshilfe sowie die Notversorgung von Neugeborenen und die Behandlung von schweren Verbrennungen an. Seit 2010 hat MSF ausserdem mehr als 204‘000 Cholera-Patienten behandelt; die Sterberate lag bei unter einem Prozent.