Haiti: MSF erhöht die Kapazität in den Spitälern der Erdbebenzone
5 Min.
Auch zwei Jahre nach dem Erdbeben kommt der Wiederaufbau des Gesundheitssystems in Port-au-Prince und Umgebung nur schleppend voran. Eine Mehrheit der Haitianer hat nach wie vor kaum Zugang zu medizinischer Nothilfe.
Der 12. Januar wird den Menschen in Haiti noch lange in Erinnerung bleiben: Kaum jemand, der in dieser Katastrophe nicht ein Familienmitglied, einen Freund oder einen Nachbarn verlor. Zahlreiche Überlebende leiden bis heute an den physischen oder psychischen Folgen des Erdbebens. Auch die Strassen von Port-au-Prince voller nicht weggeräumten Trümmern und klaffenden Löchern zeugen noch heute von der Tragödie.
MSF war bereits vor der Katastrophe im Land präsent und verlor an jenem Tag 12 Mitarbeiter. Auch zwei Spitäler von MSF wurden zerstört: das Traumazentrum „La Trinité“ und das Geburtshilfe-Spital „Maternité Solidarité“. Seither wurden vier neue Einrichtungen gebaut, wo sich die Organisation um die medizinischen Notfälle von über zwei Millionen Einwohnern kümmert. Ferner hat MSF ihre medizinischen Aktivitäten in einem Gesundheitszentrum fortgesetzt und das Gesundheitsministerium in einem Spital im Elendsviertel Cité Soleil unterstützt.
600 Spitalbetten für die Haitianer
Im vergangenen April wurde das Referenzspital für Geburtshilfe (Centre de Référence en Urgences Obstétricales - CRUO) im Bezirk Delmas 33 in Betrieb genommen. Das Zentrum verfügt über eine Kapazität von 130 Betten und versorgt schwangere Frauen mit Komplikationen, welche ihr Leben oder jenes des Ungeborenen gefährden. Seit der Eröffnung haben bereits 1'432 chirurgische Eingriffe statt gefunden, und 2'077 Neugeborene haben dort das Licht der Welt erblickt. So auch Esther, das Töchterchen von Belgarde. Die Mutter berichtet: „Meine ersten drei Babys habe ich unmittelbar nach der Geburt verloren. Auch das letzte kam zu früh, aber dank der Behandlung, die wir hier erhalten, bin ich zuversichtlich, bald mit ihm nach Hause gehen zu dürfen.“
Das Spital von Drouillard, das am 9. Mai 2011 im Norden der Hauptstadt eröffnet wurde, ersetzt das aufblasbare Spital Saint-Louis, das 2010 das ganze Jahr über in Betrieb war. Die neue Struktur mit 208 Betten bietet chirurgische und medizinische Nothilfe an und verfügt über eine auf Verbrennungsopfer spezialisierte Einheit sowie eine Abteilung für mentale Gesundheit. Täglich werden hier im Durchschnitt 55 Notfälle behandelt und 20 chirurgische Eingriffe vorgenommen, monatlich sind es über 360 Hospitalisierungen. „Von den Fällen, mit denen wir heute zu tun haben, stehen sehr wenige in direktem Zusammenhang mit dem Erdbeben. Bei drei Vierteln handelt es sich um Unfälle im Strassenverkehr oder im Haushalt, der Rest sind vor allem Gewaltopfer. Was wir dagegen beobachten, ist eine höhere Anfälligkeit in psychischer Hinsicht. Seit der Katastrophe haben die Patienten mehr Schwierigkeiten, wenn ein zusätzliches Trauma hinzukommt – etwa verursacht durch eine Gewalttat oder einen Unfall “, erklärt der medizinische Leiter Félix Konan-Kouassi.
Das Spital Chatuley existiert seit Januar 2010 und befindet sich nahe des Epizentrums des Bebens in der zu über 80 Prozent zerstörten Stadt Léogâne. Zunächst waren die Menschen in provisorischen Zeltlagern versorgt worden, bis im Oktober desselben Jahres das Container-Spital Chatuley mit einer Kapazität von 160 Betten eröffnet wurde. Bis heute ist es das einzige Spital in dieser Region und konzentriert sich auf medizinische Notfälle, insbesondere in den Bereichen Gynäkologie/Geburtshilfe und Pädiatrie. 2011 hat das medizinische Personal des Spitals insgesamt 73'741 Patienten behandelt, 3'755 chirurgische Eingriffe und 4'501 Entbindungen durchgeführt.
Im Industriegebiet von Tabarre, im Osten von Port-au-Prince, sind Bauarbeiter dabei, das Zentrum „Nap Kenbe“ fertig zu stellen. Der Name bedeutet auf Kreolisch „Hoffnung“. Dieses letzte MSF-Spital soll das kostenlose Angebot an Gesundheitsversorgung in der städtischen Agglomeration erweitern. Die aus 268 Modulen bestehende Einrichtung verfügt über eine Kapazität von 108 Betten und soll zu einem Zentrum für Notfallchirurgie und Traumatologie werden. Die Eröffnung ist für Februar 2012 vorgesehen.
MSF hat ferner ihre medizinischen Aktivitäten im Gesundheitszentrum von Martissant fortgesetzt. Das Zentrum wurde 2006 von MSF in Betrieb genommen, und im Durchschnitt werden dort monatlich 4'370 Patienten behandelt.
Wachsam bleiben
„Ein Teil der Gesundheitseinrichtungen in der Hauptstadt ist am 12. Januar 2010 dem Beben zum Opfer gefallen, Dabei hatte es schon vor der Katastrophe nicht genügend funktionsfähige Einrichtungen gegeben. Das Erdbeben hat daher vor allem die Mängel im Gesundheitssystem aufgezeigt und seine Unzulänglichkeit deutlich gemacht“, erklärt Gérard Bedock, Landeskoordinator von MSF in Haiti. „Der Wiederaufbau braucht viel Zeit. In der Zwischenzeit versuchen wir, trotz des mangelhaften Gesundheitswesens unser Möglichstes zu tun und reaktionsfähig zu bleiben, insbesondere gegenüber anderen Notfällen wie etwa der Cholera.“
Seit Ende Oktober 2010 wird Haiti von einer schweren Cholera-Epidemie heimgesucht, von der im ganzen Land bis heute über eine halbe Million Kranke betroffen sind. Die medizinische Koordinatorin von MSF, Wendy Lai, sagt dazu: „Hunderttausende leben immer noch unter armseligen Bedingungen in vorübergehenden Notunterkünften. Die Menschen haben überall nur unzureichenden Zugang zu sauberem Trinkwasser und zu sanitären Einrichtungen, insbesondere in den ländlichen und abgelegeneren Gebieten. Diese prekären Bedingungen begünstigen die Ausbreitung von Infektionskrankheiten. Auch wenn die Anzahl neuer Cholerafälle heutzutage insgesamt stark abgenommen hat, sind es trotzdem mehrere hundert Fälle pro Woche, und die Risiken einer saisonal bedingten erneuten Zunahme bleiben sehr hoch. Wir müssen daher äusserst wachsam bleiben.“
MSF hat 1991 die ersten Projekte in Haiti ins Leben gerufen. Dabei handelte es sich um Notfallprogramme, die periodisch im Fall von Naturkatastrophen oder Krisensituationen zum Einsatz kamen.
Am Tag nach dem Erdbeben im Januar 2010 startete MSF den bisher grössten Einsatz seit Bestehen der Organisation: Innerhalb von zehn Monaten wurden 358'000 Menschen behandelt, 16'570 chirurgische Eingriffe vorgenommen sowie 15'100 Entbindungen durchgeführt.
Auch im Kampf gegen die Cholera-Epidemie mobilisierte MSF wieder alle Kräfte: Auf dem Höhepunkt der Krise waren auf dem ganzen Land verteilt 4'000 Mitarbeiter in über 75 Gesundheitseinrichtungen im Einsatz. Gegen 170'000 Kranke wurden zwischen Oktober 2010 und November 2011 behandelt. Für den Fall einer erneuten Verschlimmerung der Epidemie hat MSF einen Notfallplan ausgearbeitet, um rasch und möglichst flächendeckend reagieren zu können.