Hilfe in Syrien: „Ein Gebot der Menschlichkeit“

Tankred Stöbe, médecin et Président de MSF Allemagne

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Tankred Stöbe, Arzt und Vorstandsvorsitzender von Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) in Deutschland, ist seit Jahren für MSF im Einsatz. Zuletzt hat er in Syrien sowie im syrisch-irakischen Grenzgebiet Flüchtlinge versorgt. Im Interview berichtet er über die Herausforderungen und die Notwendigkeit unserer Hilfe in Syrien.

Herr Stöbe, Sie waren im August an der syrisch-irakischen Grenze im Einsatz. Mit welchen Beschwerden kamen die Menschen?

An der syrischen Grenze haben wir im Sommer innerhalb von vier Wochen 860 Patienten in unserem Behandlungszelt behandelt. Darunter waren viele Kinder, alte Menschen, Schwangere und junge Mütter, die gerade erst entbunden haben. Viele waren nach der tagelangen Reise erschöpft, einige hatten schweren Durchfall, andere litten an chronischen Krankheiten, für die sie dringend Medikamente brauchten. Die Menschen, die es über die Grenze schaffen, haben schon so viel durchgemacht, dass sie sagen: Mehr ertragen wir nicht. Aber es ist auch klar, dass es die Schwerverletzten gar nicht über die Grenze schaffen. Das ist für uns immer wieder ein Ansporn, dass wir die medizinische Hilfe nicht nur in die Nachbarländer, sondern auch direkt nach Syrien bringen müssen. 

Wie sah Ihr Projektalltag im Gesundheitsposten an der Grenze aus?

Ich habe während meines Einsatzes die Erfahrung gemacht, dass zunächst die Medizin im Vordergrund steht: Ich untersuche die Patienten, erstelle eine Diagnose und behandle sie. Darüber hinaus ergeben sich jedoch Gespräche. Diese verlaufen häufig sehr emotional; die Menschen können ihre Geschichte erzählen und fangen an zu weinen. Dieser humanitäre Aspekt, dort zu sein, ein menschliches Gesicht zu zeigen, ist für mich ebenso wichtig wie die medizinische Hilfe an sich. 

Können Sie einen konkreten Fall schildern?

Ich traf eine junge Familie, die mich sehr beeindruckte. Sie erzählten mir, dass sie seit Ausbruch des Bürgerkriegs schon sechsmal in Syrien umgezogen sind. Das zeigt, wie sehr die Menschen versuchen, im Land zu bleiben und dort einen sicheren Ort zu finden. Erst als es definitiv nicht mehr ging, haben sie sich zur Flucht entschlossen. Sie wurden an einer Strassensperre festgenommen, zwei Tage später freigelassen und sind dann illegal in die Türkei geflohen, weiter in den Osten und wieder zurück nach Syrien, um schliesslich über die Grenze in den Irak zu gelangen. Ihre beiden Söhne, ein und fünf Jahre alt, hatten Fieber und schweren Durchfall. Ich habe die Familie nach der Behandlung in die Flüchtlingsregistrierung begleitet, weil ich Sorge hatte, dass sie einfach nicht mehr die Kraft dazu haben. Das ganze Elend, das in Syrien passiert, ist für mich in dieser Geschichte gebündelt.

Sie waren im vergangenen Jahr auch direkt in Syrien im Einsatz. Wie gefährlich war das? 

Das Projekt im Norden Syriens war sicher das unsicherste, das ich bisher erlebt habe. Wir waren an der Frontlinie in einer Bergregion, die regelmässig von Panzergranaten beschossen wurde. Wenn in der Nähe Bomben einschlugen, war klar: Das kann unser Leben bedrohen. An einem Abend besuchten uns syrische Ärzte in unserem Haus und wir hatten ein intensives Gespräch über unsere zukünftige Zusammenarbeit. Um zehn Uhr nachts sind fünfzig Meter neben unserem Haus Granaten eingeschlagen. Da spürten wir, dass unser Leben in Gefahr war, weil medizinische Einrichtungen in diesem Bürgerkrieg ja gezielt angegriffen werden.

Warum ist es Ihnen dennoch wichtig, direkt im Land zu arbeiten? 

Die Situation ist dramatisch, denn für die Verletzten gibt es immer weniger Ärzte und funktionierende Kliniken. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit und der medizinischen Ethik, dass die Patienten dort, die so dringend Hilfe brauchen, diese auch bekommen. Es ist aber auch an uns als Organisation herauszufinden, wie es uns gelingen kann, in einem solch unsicheren Kontext zu arbeiten. Das fordert uns täglich aufs Neue heraus. Aber seit einem Jahr gelingt es uns: Im Moment betreiben wir sechs Kliniken, mehrere Gesundheitszentren und mobile Kliniken in Syrien. 

Was genau macht es möglich, überhaupt in Syrien zu arbeiten? 

Natürlich gibt es keine absoluten Sicherheitsgarantien, aber die Methoden, die wir anwenden, sind dennoch die besten, die uns zur Verfügung stehen: Die direkte Verhandlung mit allen Konfliktparteien, der gute Austausch mit der Lokalbevölkerung, die Wichtigkeit unserer Arbeit, und am wichtigsten: die Tatsache, dass wir gebraucht werden und unsere Präsenz erwünscht ist. In Syrien ist die Situation so schwierig, weil medizinische Einrichtungen direkt angegriffen werden. Dennoch lautet die Frage für mich nicht, ob wir in Syrien arbeiten können oder nicht, sondern nur, wie wir die Hilfe gestalten können, dass wir noch mehr Menschen in Not erreichen.

In Syrien ist das humanitäre Leid enorm. Haben Sie da noch das Gefühl, überhaupt helfen zu können? 

Für mich ist es in solchen Einsätzen wichtig, mir kurzfristig „Scheuklappen“ anzulegen. Wenn ich mir das gesamte Leid in Syrien vorstelle, dann kann ich nur kapitulieren. Wenn ich mir aber vor Augen halte: Das ist die Region, das ist das Spital, das sind die Patienten, denen ich heute helfen kann, dann verliert es das Abstrakte und diese Brutalität, dann wird es ganz konkret und auch menschlich. Das macht die Arbeit dann nicht nur durchführbar, sondern auch befriedigend, weil ich sagen kann: Ja, ich habe das Leben dieses Menschen retten und sein Leid lindern können. Das ist eine wichtige Erfahrung.