„Ich weiss nicht, was wir ohne die Solidarität der Haitianer getan hätten.“
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Als Michelle Mays im Rahmen der Cholera-Intervention von MSF nach Port-de-Paix im Norden Haitis kam, gab es keinerlei Infrastruktur, um die Cholera-Erkrankten zu behandeln. Die MSF-Pflegefachfrau erzählt von den Schwierigkeiten, aber auch von den Highlights ihres Einsatzes.
Nach dem Erdbeben im Januar 2010 ging die Pflegefachfrau Michelle Mays erstmals mit MSF nach Haiti. Im November 2010, kurz nach dem Ausbruch der Cholera-Epidemie, kehrte sie zurück und arbeitete drei Wochen lang als verantwortliche Pflegefachfrau im Cholera-Behandlungszentrum von Port-de-Paix, das MSF im Spital des Gesundheitsministeriums eingerichtet hat. Diese Region im Norden Haitis ist besonders stark von der Epidemie betroffen.
Ende November, sieben Wochen nach dem Cholera-Ausbruch, hatte MSF mehr als 41‘000 Patienten behandelt, ohne dabei die anderen Programme in Haiti zu vernachlässigen. Mittlerweile gibt es landesweit 30 Cholera-Behandlungszentren mit einer Gesamtkapazität von 3‘200 Betten. In einigen Gebieten nehmen die Patientenzahlen zu, in anderen gehen sie zurück. In der Region Artibonite, wo die ersten Fälle aufgetreten waren, sind sie stabil.
In nur drei Wochen behandelten Michelle Mays und ihre Mitarbeitenden in Port-de-Paix mehr als 2‘100 Patienten. Obwohl die MSF-Teams die Sterblichkeitsrate in den Cholera-Behandlungszentren auf unter zwei Prozent senken konnten, bleibt die Lage angespannt: die Patienten müssen umgehend behandelt und ständig überwacht werden, die Arbeit erfordert viel Kreativität und das Pflegepersonal muss fortlaufend geschult werden.
Wie kam das Programm in Port-de-Paix zustande?
Als das Erkundungsteam dieses Spital fand, waren bereits einige Cholerapatienten in Behandlung. Doch es gab keine Behandlungsprotokolle und kaum Information über die Patienten. Als das Team eintraf, waren zwei Pflegeassistentinnen für 40 Patienten zuständig.
Als erstes galt es, die Choleraerkrankten von anderen Patienten zu isolieren. Diese wurden in andere Spitäler verlegt. Wir hatten nur sehr wenig Platz zur Verfügung; ein paar Gebäude und eine kleine Kapelle, die alle innerhalb kürzester Zeit mit Patienten überfüllt waren.
Wir mussten die Situation sowohl aus einer logistischen wie auch aus einer personellen Perspektive angehen: einerseits mussten wir Platz schaffen, andererseits Pflegepersonal finden. Als ich ankam, arbeiteten hier drei oder vier Pflegefachfrauen; einige Wochen später waren es mehr als 70, und wir hätten wohl nochmals so viele brauchen können, um täglich 150 Patienten zu betreuen.
War Cholera dem Pflegpersonal und der Bevölkerung bekannt?
In Haiti kennt man Cholera nicht. Seit mehr als 100 Jahren hatte es keine Fälle gegeben. Der Lernprozess war daher gewaltig. In Ländern wie Tschad oder Nigeria, wo jedes Jahr Cholerafälle auftreten, kann man ganz anders mit einer Epidemie umgehen. Die Bevölkerung weiss, dass sie ein Gesundheitszentrum aufsuchen muss, sobald erste Symptome auftreten. Doch in Haiti müssen die Menschen erst aufgeklärt werden; viele kommen erst, wenn ihr Zustand kritisch ist. Natürlich wird alles daran gesetzt, ihnen zu helfen, doch für viele ist es leider zu spät.
So mussten Sie sich ständig neuen Bedingungen anpassen?
Wir mussten schon sehr kreativ sein. Einmal sassen der Arzt und ich nur noch da und rauften uns die Haare, weil wir keinen Platz mehr hatten und immer noch mehr neue Patienten kamen. Und sie alle benötigten eine Behandlung. So entschieden wir, die Kinder zu zweit in ein Bett zu legen, was nicht gerade ideal ist. Doch aussergewöhnliche Situationen erfordern aussergewöhnliche Massnahmen.
Man muss flexibel und kreativ sein, denn man muss einfach eine Lösung finden. Ich denke, wir können stolz darauf sein, dass wir das irgendwie hingekriegt haben. Wir haben der Bevölkerung wirklich helfen können. Einmal wurde ein Baby eingeliefert, das dem Tod nah war, weil es so dehydriert war. Wir versuchten 20 Minuten lang, eine Infusion zu legen, und dem Baby ging es zusehends schlechter. Es war ein schlimmer Moment. Schliesslich gelang es dem haitianischen Arzt. In solchen Momenten stehen einem die Tränen zuvorderst, und man weiss, warum man da ist.
Die Stimmung im Land muss von Angst geprägt gewesen sein, wie haben Sie das erlebt?
Es kursierten viele Gerüchte über die Ursachen und über die Vorbeugung von Cholera. Viele Leute dachten, sie könnten eine Ansteckung verhindern, indem sie die orale Rehydrierungslösung trinken. Viele kamen ins Spital und tranken einfach diese Kochsalzlösung. Und natürlich gab es auch solche, die daraus einen Profit schlagen wollten, indem sie den Leuten Medikamente verkauften, die eine Ansteckung verhindern sollen. Das ist sehr gefährlich, denn viele Leute glauben daran und gehen nicht ins Spital, wenn erste Symptome auftreten. Oft ist es dann zu spät für sie. Am besten funktioniert die Mundpropaganda: Im Normalfall können Patienten innerhalb von drei Tagen behandelt werden. Wenn sie dann in ihre Gemeinden zurückkehren, erzählen sie ihren Angehörigen von der Behandlung.
Wie sah ein typischer Arbeitstag aus?
Die ersten Patienten kamen jeweils um 5 Uhr morgens zu uns. Das Team war dann schon völlig erschöpft von der Nachtschicht, daher mussten wir immer früher anfangen. Wenn man eintrat, musste man sich erst die Hände waschen und die Füsse mit Chlorlösung desinfizieren. In einem kleinen Zelt war der Empfang. Dort entschied eine Pflegefachfrau, welche Patienten sofort Hilfe brauchten und welche mit einer Rehydrierungslösung entlassen werden konnten. Diese Kochsalzlösung ist für alle Patienten notwendig, sei es oral oder per Infusion.
Morgens warteten immer etwa 20 oder 30 Patienten vor dem Zelt. Ich meldete mich erst bei der Triage, suchte dann den verantwortlichen Arzt der Nachtschicht auf und besprach mit ihm die Vorfälle der Nacht, z.B. ob es Todesfälle gegeben hatte. Als erstes kümmerte ich mich um die Patienten in kritischem Zustand, anschliessend machte ich die Runde und schaute nach den anderen Patienten. Ausserdem überprüfte ich den Materialbestand, denn in einer Nacht können Unmengen Material verbraucht werden.
Sahen Sie bei der haitianischen Bevölkerung Anzeichen der Erschöpfung, bei all dem was sie dieses Jahr durchmachen mussten?
Jeder, der in Haiti arbeitet, bewundert die Stärke dieses Volkes. Doch man muss sich fragen, wie viel sie noch ertragen können. Es ist unglaublich, mit diesen Leuten zusammen zu arbeiten. Einige nehmen einen sehr weiten Arbeitsweg auf sich, weil sie keine andere Wahl haben. Und die Arbeit ist wirklich hart. Die Ärzte und das Pflegepersonal arbeiten 10 bis 14 Stunden pro Schicht. Danach ist man total erschöpft, doch am nächsten Morgen steht man einfach wieder auf und nimmt den nächsten Tag in Angriff. Den haitianischen Mitarbeitern wird viel abverlangt, beruflich wie auch privat: Unter den Patienten, die sie versorgen, sind oft auch Familienangehörige oder Freunde. Der Norden war zwar vom Erdbeben nicht stark betroffen, doch von der Cholera umso mehr. Einer meiner Fahrer erzählte mir, dass fünf seiner Freunde bereits an Cholera gestorben sind.
Konnten Sie beim Pflegepersonal einen Lerneffekt erkennen und hat Ihr Beitrag zu einem besseren Umgang mit dieser Epidemie beigetragen?
Als ich Port-de-Paix verliess, wusste das Personal ganz genau, wie man mit Cholera umgeht. Ich denke, am Anfang waren viele mit der Situation überfordert und die Mitarbeiter konnten nicht genügend geschult werden. Doch als sich die Lage beruhigt hatte und Schulungen stattgefunden hatten, stieg die Pflegequalität und das medizinische Personal zeigte viel Eigeninitiative.
Ich erinnere mich an ein Baby, kaum älter als ein Jahr, und seine Schwester, im Alter von zwei oder drei Jahren. Ihre Mutter war sehr krank und der Vater musste den ganzen Tag arbeiten. Er war verzweifelt, denn er würde seine Arbeit verlieren, wenn er nicht hingehen würde. Und wie sollte er dann seine Familie ernähren? Wir versprachen ihm, auf seine Familie aufzupassen. Es war rührend zu beobachten, wie fürsorglich sich das Pflegepersonal um die beiden Kinder kümmerte.
Die schwierige Situation hat die Betroffenen zusammengeschweisst. Auf meinen Rundgängen kam es immer wieder vor, dass sich Mütter von kranken Kindern um fremde Kinder kümmerten, wenn deren Mütter nicht da waren. Sie gaben mir genau Auskunft über Durchfall und Erbrechen der Kleinen. Bei den Haitianern wird die Gemeinschaft grossgeschrieben, und das hat uns die Arbeit sehr erleichtert. Ich weiss nicht, was wir ohne ihre aktive Mithilfe getan hätten.