Jemen: Droht dem Land eine Hungersnot?
© Agnes Varraine-Leca/MSF
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Im Jemen herrscht seit fast vier Jahren Krieg. Caroline Seguin, Programmverantwortliche von MSF, äussert sich zu den jüngsten Warnungen, dass es zu einer Hungersnot kommen könnte.
Vor einem Monat schrieb die Kinderrechtsorganisation «Save the Children» in einer Pressemitteilung, dass 5,2 Millionen Kinder im Jemen von Hunger bedroht seien. Kurz darauf warnten die Vereinten Nationen, dass wir Zeugen der «schlimmsten Hungersnot seit 100 Jahren» werden könnten. Steht der Jemen am Rand einer Hungersnot?
Von einer Hungersnot spricht man, wenn grosse Teile einer Bevölkerung, sowohl Erwachsene wie auch Kinder, von Hunger betroffen sind, und wenn der Mangel an Nahrung zusammen mit Folgeerkrankungen zu Todesfällen führt. Es kommt zu einer grossen Zahl an Fällen von schwerer akuter Mangelernährung und in der Folge zu einer besonders hohen Sterblichkeit. Dies geschah zum Beispiel 1984 in Äthiopien, 1998 im Südsudan, 2002 in Angola und, vor nicht langer Zeit, 2016 im unzugänglichen Norden Nigerias. Eine solche Situation haben wir jedoch in den MSF-Projekten für mangelernährte Kinder in den Gouvernements Haddscha, Ibb, Taiz, Amran und Saada nicht beobachtet. Die Informationen, die wir von den durch uns unterstützten Gesundheitseinrichtungen in diesen Regionen erhalten, geben keine Hinweise auf Gebiete mit einer Hungersnot oder auf einen bevorstehenden Ausbruch.
Worauf stützen sich die Warnungen vor einer Hungersnot?
Für die humanitären Akteure im Jemen ist es unmöglich, sich einen Überblick zur Mangelernährung im gesamten Land zu verschaffen. Es gelingt UNO-Organisationen und NGOs nicht, eine grossflächige Umfrage zur Ernährungssituation durchzuführen, welche die notwendigen Informationen liefern könnte, weil im Jemen viele Gebiete nicht zugänglich sind. Ein Grund dafür ist die ungenügende Sicherheit infolge der Luftangriffe und Gefechte, aber es gibt auch administrative und politische Hürden, denn der Zugang zu diesen Gebieten ist abhängig vom Wohlwollen der lokalen Behörden. Es gibt also keine verlässlichen Zahlen, welche die Ankündigung einer bevorstehenden Hungersnot erlauben würden. Ebenso haben wir keinerlei Informationen zur Zahl der Todesopfer, die im August 2016 auf 10’000 beziffert wurde und seither unzählige Male unverändert wiederholt wurde. Man kann sich nur schwer ein Bild von der Lage im Jemen machen, unter anderem deshalb, weil der Zugang der Journalisten zum Land von den Behörden streng kontrolliert wird und sehr eingeschränkt ist. Die Presse gibt Zahlen und Fakten wieder, die schwierig zu überprüfen sind.
Welches Bild bietet sich unseren Teams im Feld?
Was Mangelernährung betrifft, sind es vor allem kleine Kinder, die unter der akuten, schweren Form der Krankheit leiden. Häufig wurden sie zu schnell abgestillt oder die Mangelernährung ist die Folge einer anderen Krankheit. Wir behandeln diese Kinder mit besonders nährstoffreicher therapeutischer Nahrung und setzen Medikamente ein, um die vorbestehenden Krankheiten zu behandeln, welche die Ursache der Mangelernährung sind. Es gibt allerdings Gebiete, wo die Anzahl Fälle von schwerer akuter Mangelernährung zunimmt. Gemäss den Informationen, die wir aus unserem Spital in Khamer erhalten, betrifft dies das Gouvernement Amran. Im September 2018 zum Beispiel wurden dort doppelt so viele Kinder wegen Mangelernährung aufgenommen als im selben Monat des Vorjahres. Die Situation im Land ist aber unterschiedlich.
Was wir beobachten, ist eine allgemeine Verschlechterung der Lebensbedingungen. Die Bevölkerung hat sehr eingeschränkten Zugang zu Gesundheitseinrichtungen, entweder, weil diese in den Kämpfen zerstört wurden oder weil das medizinische Personal, das seit August 2016 keinen Lohn mehr erhält, seine Arbeit aufgegeben hat. Wir erleben, wie die Zivilbevölkerung vor allem im Norden Opfer von heftigen Luftangriffen wird, und wie Zivilisten in Bodengefechten verletzt werden oder vor den Kämpfen fliehen müssen. Das «Yemen Data Project» ist ein von den Kriegsparteien unabhängiges Projekt zur Informationsgewinnung. Gemäss dieser Quelle betrafen beinahe ein Drittel der Luftangriffe seit März 2015 nicht militärische Ziele. Ausserdem gab es 2018 im Vergleich zum Vorjahr mehr Anschläge auf zivile Fahrzeuge.
Auch die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich deutlich. Die Kaufkraft ist eingebrochen: Mehl kostet fast 80 Prozent mehr als vor dem Krieg und der Benzinpreis ist um 130 Prozent gestiegen. Die sozialen Strukturen im Jemen ermöglichen es, dass ein Teil der Bedürftigen Unterstützung aus ihrem Umfeld erhält, so dass die Auswirkungen der Nahrungsknappheit zumindest für gewisse Familien etwas gemildert werden. Es sterben aber auch immer wieder Menschen, weil sie den Transport in eines der wenigen noch funktionierenden Spitäler im Land nicht bezahlen können. Dies sind einige der Schwierigkeiten, mit denen die Bevölkerung im Jemen zu kämpfen hat. MSF unternimmt alles, um zu helfen – trotz der äusserst schwierigen Sicherheitslage und des stark eingeschränkten Zugangs.
© Agnes Varraine-Leca/MSF