Nicht nur Zahlen: Besorgniserregender Anstieg von Masern-Fällen im Jemen

Ein medizinisches Team führt eine Visite in der Isolation des Trauma-Spitals in Mocha durch. Jemen, 10. Juni 2023

Jemen5 Min.

In den letzten drei Jahren ist die Zahl der Kinder, die in den Spitälern von Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) wegen Masern stationär aufgenommen werden mussten, erheblich gestiegen. Allein in der ersten Jahreshälfte 2023 hat sich die Zahl der Masernpatient:innen in unseren Einrichtungen mit 4000 Fällen im Vergleich zum Gesamtjahr 2022 nahezu verdreifacht. Angesichts der Auswirkungen des nun seit fast neun Jahren andauernden Konflikts und der wirtschaftlichen Folgen für das Land ist zu befürchten, dass es sich dabei nur um die Spitze des Eisbergs handelt.

2022 schlugen wir Alarm wegen zunehmender Mangelernährung bei Kindern im Jemen, die andere Krankheiten begünstigt. Mangelernährung schwächt das Immunsystem und macht insbesondere nicht geimpfte Kinder noch anfälliger für Masern und deren mitunter tödlichen Folgen.

Beides sind vermeidbare Krankheiten. Im Jemen mangelt es jedoch an grundlegender Gesundheitsversorgung und die wirtschaftliche Not ist gross. Das hat einen konkreten Einfluss auf das Leben von Menschen wie Aisha und ihrem dreijährigen Sohn Abdullah.

«Abdullah hatte Halsschmerzen, hohes Fieber und gerötete Augen, und dann bekam er einen roten, gepunkteten Ausschlag», sagt Aisha. Ihr Sohn wurde in das Spital von Abs im Gouvernement Haddscha eingewiesen.

Als ich ihn ins Spital brachte, sagte der Arzt, dass er Masern mit Komplikationen habe und deshalb dableiben müsse. Abdallah hatte schon Impfungen erhalten, aber einige fehlten noch. Es war für uns schwierig, öfter ins Spital zu kommen: Entweder gab es keine Transportmöglichkeiten oder sie waren zu teuer. Deshalb erhielt er nicht alle Impfungen.

Aisha, Mutter eines Patienten im Spital von Abs

Masern sind eine hoch ansteckende Virusinfektion, die sich besonders in dicht besiedelten Gebieten rasch verbreitet. Sie betrifft vor allem Kinder unter fünf Jahren und wird in Kombination mit anderen Grunderkrankungen oder Komplikationen besonders gefährlich. Die Krankheit ist potenziell tödlich, kann aber durch Impfungen vermieden werden.

Der wirtschaftliche Einfluss

Die wirtschaftliche Not wird durch den Konflikt noch verschärft und macht es für Menschen in entlegenen Gebieten schier unmöglich, ihre Kinder ins Spital zu bringen. Die Transportkosten sind einfach zu hoch. Das Fehlen von Impfkampagnen oder erschwinglichen und funktionierenden Gesundheitseinrichtungen verschlimmert die Lage noch, weil die Menschen noch weitere Strecken zurücklegen müssen, um medizinische Versorgung zu erhalten. 

Daher haben die Patient:innen, die in unsere Spitäler kommen, meist schon Komplikationen entwickelt. Bei manchen ist die Krankheit bereits fortgeschritten, was durch eine Prophylaxe oder zeitige ärztliche Hilfe vermeidbar gewesen wäre.

Dr. Hind Saleh, Spezialistin für Pädiatrie, macht ihre Visite in dem von uns unterstützten Al Salam-Spital im Distrikt Khame. Jemen, 12. Juni 2023

Dr. Hind Saleh, Spezialistin für Pädiatrie, macht ihre Visite in dem von uns unterstützten Al Salam-Spital im Distrikt Khame. Jemen, 12. Juni 2023

© Athmar Mohammed/MSF

All diese Faktoren, die den Umgang mit Masern und anderen vermeidbaren Krankheiten im Jemen erschweren, sind kaum messbar. Doch es liegt auf der Hand, dass die Lücken bei Routine-Impfungen und bei der Verfügbarkeit grundlegender Gesundheitsversorgung diesbezüglich eine Hauptrolle spielen.

«Gegenüber dem Jahr 2019 mit 731 Fällen, sank die Zahl der wegen Masern behandelten Patient:innen in unseren Spitälern im Jahr 2020 auf 77. Dies könnte mit der gross angelegten Impfkampagne zusammenhängen, die wir 2019 durchgeführt haben», so Isaac Alcalde, unser Projektleiter im Jemen. 

Möglich ist, dass die reduzierte Impftätigkeit der Folgejahre und die unzureichende Verfügbarkeit medizinischer Leistungen diese Zahlen verzerrt haben. 2021 zählten wir wieder 762 Masernfälle. Alarmierend sind aber besonders die stark gestiegenen Zahlen des laufenden Jahres: Fast 4000 Masernfälle sind eine enorme Belastung für unsere bereits überlasteten Gesundheitseinrichtungen. Und es sind nicht nur Zahlen, es geht hier um das Leben von Kindern.

Isaac Alcalde, Projektleiter im Jemen
Die Masern-Isolation, die unsere Teams im Trauma-Spital in Mocha eingerichtet haben. Jemen, 9. Juni 2023

Die Masern-Isolation, die unsere Teams im Trauma-Spital in Mocha eingerichtet haben. Jemen, 9. Juni 2023

© Athmar Mohammed/MSF

Leider ist diese dramatische Zunahme kein isoliertes Phänomen. Auch in den Gouverments Amran, Saada, Haddscha, Ibb, Hudaida, Taiz, Marib und Schabwa steigen die Masernfälle mit verheerenden Folgen. 

Auch die Vereinten Nationen haben auf den starken Anstieg von durch Impfungen vermeidbaren Krankheiten im Jemen hingewiesen: 2022 verzeichnete das Land über 22 000 Masernfälle, von denen 161 tödlich verliefen. Im April dieses Jahres zählte man bereits 16 114 Fälle. Auch Diphtherie und Keuchhusten sind auf dem Vormarsch, und bei beiden Krankheiten steigen auch die Todesfälle.

Seit wir Mitte Februar mit der Masernbekämpfung im Gouvernement al-Baida begonnen haben, verzeichneten wir bis Juni 2023 insgesamt 1784 Fälle. Davon waren fast 52 Prozent der Fälle kompliziert, und nur 12 Prozent dieser Patient:innen hatten vor der Spitaleinweisung eine Impfung erhalten. Dies zeigt, wie niedrig die Durchimpfungsraten im Land sind. Grund dafür sind logistische Hindernisse (u. a. aufgrund von Restriktionen beim Import humanitärer Güter), die Unterversorgung der Spitäler mit Impfstoffen sowie mangelnde Aufklärung der Bevölkerung über die wesentliche Rolle von Impfungen zum Schutz vor solchen Erkrankungen.

Anpassungen unserer Aktivitäten

In einigen Gesundheitszentren, die wir unterstützen, haben wir unsere Aktivitäten an die steigenden Bedürfnisse angepasst. So wurde im Spital von Abs die Masern-Isolationsstation vergrössert. Schon wenige Tage nach der Eröffnung im Mai 2023 waren im Mutter-Kind-Spital von al-Kanawes im Gouvernement Hudaida mehr als die Hälfte der Patient:innen auf der Kinderstation Masernfälle. Auch in Mokka im Gouvernement Taiz eröffneten wir im April 2023 eine neue Isolationsstation. In Khamer und Haydan litten 35 bzw. 41 Prozent der Patient:innen auf der Kinderstation an Masern. 

Aufgrund der hohen Ansteckungsgefahr und des potenziell lebensbedrohlichen Krankheitsverlaufs ist die Isolation der Erkrankten das A und O. In verschiedenen Gouvernements, in denen unsere Teams Masern behandeln, versuchen Eltern, die die Symptome erkennen, ihre Kinder und die Kinder der Nachbarn vor einer Ansteckung zu schützen. 

So auch die Mutter von Layal und Hussein, die ins Spital von Ra’ada im Gouvernement al-Baida eingewiesen wurden.

Zuerst war Layal im Kontakt mit den Verwandten, aber als sie Fieber und Ausschlag bekam, isolierte ich sie von ihrem Bruder. Leider hatte er sich aber schon angesteckt und bekam erste Symptome. Zum Glück sind wir noch früh genug ins Spital gekommen und die beiden erholten sich gut. Ich weiss, dass sich Masern schnell in der ganzen Nachbarschaft ausbreiten können, deshalb war ich zunächst sehr besorgt.

Mutter von Layal und Hussein, Patient:innen im Spital von Ra'ada

Koordiniertes Vorgehen als Schlüssel

Angesichts dieser schweren Gesundheitskrise braucht es ein ganzheitliches, koordiniertes Vorgehen. Zum Schutz der Kinder vor Masern ist es nötig, prophylaktische Massnahmen im Jemen zu stärken, die Lokalbevölkerung einzubeziehen und das Fall-Management zu verbessern. Behörden wie humanitäre und medizinische Akteure im Jemen müssen gewährleisten, dass den Gesundheitseinrichtungen ausreichend Impfungen zur Verfügung stehen, der Zugang und die Kapazitäten von allgemeinmedizinischen Einrichtungen ausgebaut und Überweisungswege verbessert werden sowie das Bewusstsein der Bevölkerung für Krankheiten wie diese gestärkt wird. 

Unsere Teams kamen zum ersten Mal 1986 in den Jemen und arbeiten seit 2007 ohne Unterbrechungen im Land. Wir sind in 11 Spitälern präsent und unterstützen weitere 16 Gesundheitseinrichtungen in 13 Gouvernements. Im Jahr 2022 wurden über 108 000 Menschen stationär und rund 71 000 ambulant versorgt, mehr als 36 000 chirurgische Eingriffe durchgeführt und etwa 35 000 Geburten betreut.