Libyen: An Bord des Schiffs während der Evakuation - eine Pflegefachfrau erzählt
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Es ist Sonntagvormittag, 11.30 Uhr, und wir befinden uns in internationalen Gewässern etwa dreissig Kilometer vor der libyschen Küste. Wir versuchen, mit dem Hafen von Misrata Kontakt aufzunehmen, damit sie uns freie Fahrt geben. Die Spannung steigt, da wir nur noch für eine knappe halbe Stunde Treibstoff haben. Wir warten hier schon seit einigen Stunden. Wo ist unsere Kontaktperson? Heute Morgen im Briefing hat man uns noch erzählt, wie man sich in einer Kriegszone zu verhalten hat. Bin ich wirklich hier? Alles erscheint mir ziemlich surreal.
Ein 13-köpfiges Team: MSF-Mitarbeiter und freiwillige Ärzte aus Tunesien
Unser 13-köpfiges Team besteht aus internationalen MSF-Mitarbeitern und einigen freiwilligen Ärzten aus Tunesien, die sich zu diesem Einsatz bereit erklärt haben. Wir wollen Kriegsverletzte per Schiff aus Misrata evakuieren und sie nach Sfax in Tunesien bringen, wo sie medizinisch versorgt werden können. Die Reise hätte schon vor ein paar Wochen losgehen sollen, nachdem das Personal im völlig überfüllten Spital von Misrata um Unterstützung gebeten hatte, aber wir bekamen erst vor einem Tag grünes Licht. Gestern Abend ging es los, auf einer Schnellfähre vom Typ San Pawl mit 216 Sitzplätzen. Das Schiff wurde so umgebaut, dass es 60 Patienten auf Matratzen und 30 mobile Verletzte befördern kann. Wir wissen nicht, wie die Patientenliste aussehen wird, insbesondere weil Misrata gestern Nacht wieder bombardiert wurde. Aber unter den 90 Patienten werden einige mit Beatmungsgeräten sein, viele mit offenen Brüchen und Amputationen, solche mit schweren inneren Verletzungen, Kopfwunden und Schussverletzungen. Einfach wird es ganz bestimmt nicht werden.
Das Boot ist umgerüstet, aber die Bedingungen werden schwierig sein
Wir haben das Boot medizinisch so gut ausgerüstet, wie wir konnten, aber die Bedingungen werden schwierig sein. Das Boot wurde ganz schön durchgeschaukelt, seit wir an Bord gegangen sind. Wie Betrunkene taumelten wir umher, als wir die Kisten mit Medikamenten, Geräten, Infusionen, Sauerstoffflaschen und Vitalparameter-Monitoren herumschoben, um Platz für eine kleine Intensivstation und zwei getrennte Abteilungen zu schaffen: eine für kritische Patienten und Schwerverletzte, die andere für weniger kritische und solche, die gehen können. Das gesamte Material muss griffbereit sein, da keine Zeit sein wird, lange nach etwas zu suchen, und es wird schwierig sein, sich auf dem engen Raum zu bewegen. Unser Logistiker Annas hat dünne Seile zwischen die Pfosten gespannt, an die wir die Infusionsbeutel hängen können. Aber richtig einrichten können wir uns erst, wenn wir die 6,5 Tonnen medizinische Ausrüstung und Medikamente ausgeladen haben (mir wurde gesagt, das entspricht etwa dem Gewicht einer Elefantenmutter mit ihrem Jungen). Das Material ist eine Spende von MSF an das Spital in Misrata. Momentan ist die Hälfte der Bettenplätze noch mit Fracht belegt.
Am Mittag kommt endlich der Notfallkoordinator Helmy und ruft erleichtert: „Der Kontakt steht, wir haben grünes Licht!“ Wir jubeln. So wie es aussieht, haben wir es geschafft.
Die Verletzten werden an Bord gebracht
Ein kleines Boot geleitet uns in den Hafen. Jegliche Angebote für militärischen Schutz haben wir abgelehnt, da MSF sich stets neutral verhält und keine Waffen duldet. Als wir am Dock anlegen, ist es ruhig in Misrata. Das gesamte Team und die Schiffsmannschaft bilden eine Kette und wir laden so schnell wie möglich die vielen schweren Kisten auf den Kai, damit wir die Matratzen auf den Boden der beiden Stationen legen und unser Material vorbereiten können, bevor die ersten Patienten eintreffen. Nach wenigen Minuten ist es soweit: Zwei Ärzte auf dem Kai koordinieren die Verteilung der Patienten, während ich mit Kate, der anderen internationalen Pflegefachfrau, drinnen warte. Bald kommen sie nicht mehr einzeln, sondern strömen gleichzeitig durch die Luken; auf Bahren, an Krücken, mit Infusionen und Kanülen, junge Menschen und auch Ältere.
Offene Brüche, Unterleibs- und Brustverletzungen, Patienten an Beatmungsgeräten
Da ist ein 13-jähriger Junge – noch ein Kind – mit schrecklichen Verbrennungen im Gesicht von der Explosion eines Molotowcocktails. Sein Vater ist bei ihm. Da sind junge Männer – viele junge Männer –, die nie mehr werden gehen können, querschnittgelähmt durch eine Kugel im Rückenmark. Und die Amputierten werden Prothesen brauchen. Einige wurden gerade erst operiert; ich hoffe, dass die Blutung wirklich gestoppt ist. Einige erhalten Bluttransfusionen. Da sind offene Brüche, fürchterliche Unterleibsverletzungen, Brustverletzte mit Pneumothorax, die eine Thoraxdrainage brauchen. Ein junger Mann, der wegen der schweren Verbrennungen an Gesicht und Hals einen Luftröhrenschnitt bekam, kann nichts sehen, da sein Gesicht mit Gaze bedeckt ist. Er hat niemanden bei sich, der erklären könnte, was genau mit ihm los ist, aber ich sehe, dass die wunderbare ägyptische Pflegefachfrau, die in Misrata zugestiegen ist, mit ihm spricht.
Wie sollen wir mit all diesen Verletzten fertig werden?
Da ist ein anderer Junge, etwa 16-jährig, der von einem flüchtenden Pick-up gefallen ist und schwere Schädelverletzungen erlitten hat. Er lag sechs Stunden im Koma und ist auch jetzt kaum bei Bewusstsein. Ein anderer Patient mit mehrfachen Schussverletzungen, einem amputierten Bein und offenen Brüchen, der viel Blut verloren hat, wurde direkt in die kleine Intensivstation gebracht und muss rund um die Uhr überwacht werden.
Wie sollen wir mit all diesen Verletzten fertig werden? Insgesamt sind es 71 Patienten, und unser medizinisches Team, offiziell 12 Leute, ist die meiste Zeit auf vier oder fünf reduziert. Niemand hat mit der Seekrankheit gerechnet, und immer wieder fallen einige Ärzte aus. Aber wir schaffen es. Wir tun, was wir können. Wir sehen zu, dass die Patienten stabil bleiben, dass ihre Infusionen laufen. Wir geben bei Bedarf Antibiotika und Schmerzmittel, wir leeren die Urinbeutel, wechseln Drainage-Flaschen. Wir versuchen, die Krankenakten nachzuführen. Doch ich befürchte, dass wir nicht allen Bedürfnissen gerecht werden können.
In Sfax erwarten uns 36 Ambulanzen
Um zu den Patienten zu gelangen, müssen wir in den Lücken zwischen den Matratzen herumkriechen. Die Fähre schaukelt so stark, dass wir beim Gehen auf einen Schwerverletzten fallen könnten – eine schreckliche Vorstellung. Die Arbeit nimmt kein Ende, wir sind erschöpft und machen trotzdem die ganze Nacht weiter.
Ich habe kaum gemerkt, wie es Morgen geworden ist. Doch plötzlich hören wir: „Anlegen in 30 Minuten!“ Die Überfahrt nach Sfax hat fast zwölf Stunden gedauert. Ich schaue erleichtert auf den Kai, wo 36 Ambulanzen stehen und überall Freiwillige vom Roten Halbmond darauf warten, die Verletzten von der Fähre zu tragen. Die Einwanderungsbehörden sind zum Glück zurückhaltend, und wir können sofort mit dem Ausladen der Patienten beginnen.
Die Überfahrt hat sich gelohnt
Kates Patient auf der Intensivstation fasst nach ihrer Hand. „Hat sich die Überfahrt gelohnt?“, fragt er. „Ja“, antwortet sie ruhig. Was kann sie schon sagen? Ich habe Tränen in den Augen, als die jungen Männer, mit denen wir intensive zwölf Stunden verbracht haben, in die Ambulanzen geschoben werden, die sofort zu den Spitälern von Sfax losbrausen. Der tunesische Arzt, der die Transporte koordiniert, wirkt gelassen und hilfsbereit.
Auf einmal ist alles vorbei. Die Ambulanzen und Filmteams sind alle abgefahren, nur die Schiffsmannschaft und wir vom Einsatzteam sind noch an Bord. Die surreale Blase, in der wir die letzten 72 Stunden verbracht haben, zerplatzt plötzlich, und wir landen wieder in der Wirklichkeit.
Als wir in unsere Basis in Zarsis gefahren werden, fünf Stunden südlich von Sfax, sagt unser Fahrer Said plötzlich: „Im Radio reden sie über Médecins sans Frontières, über den Patiententransport von Misrata nach Tunesien. Und sie möchten euch etwas zurückgeben, ein Dankeslied von der libyschen Bevölkerung.“ Es ist ein berührendes Lied über Liebe und Verlust, und es klingt noch lange in uns nach.