MSF verstärkt Nothilfe im kriegsgebeutelten Libyen
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Während der Osten Libyens von Aufständischen und der Westen von Pro-Gaddafi Truppen kontrolliert wird, gehen die Kämpfe im Land weiter. Besonders in der Region um Misrata verschlechtert sich die Situation der Bevölkerung zusehends. Ebenfalls problematisch ist die Lage der Wanderarbeiter. Viele fliehen unter zum Teil dramatischen Bedingungen mit Booten nach Europa oder befinden sich bereits in Flüchtlingslagern in Tunesien, wo sie weiterer Gewalt und Unsicherheit ausgesetzt sind.
MSF ist seit dem 25. Februar 2011 in Libyen aktiv. Aufgrund der Verschärfung der Lage weitet MSF die Nothilfe in den Städten Misrata, Bengasi, Sintan sowie in den Flüchtlingslagern an der tunesischen Grenze und auf der italienischen Insel Lampedusa sowie Sizilien weiter aus. Das Angebot von MSF, auch medizinische Unterstützung in Pro-Gaddafi-Gebieten zu leisten, wurde bisher von der Regierung abgelehnt.
Bedingungen in Misrata weiterhin schwierig
Während die Kämpfe um die Stadt Misrata weitergehen, leistet MSF im Abbad-Spital medizinische und insbesondere chirurgische Nothilfe für Kriegsverletzte; dazu gehören Hauttransplantationen sowie andere plastische Eingriffe. Die Organisation hat im Kasr Ahmed-Spital zwei Operationssäle aufgebaut, um andere lebensnotwendige Eingriffe durchführen zu können. Im Ras Tubah-Spital betreuen die Teams von MSF zusammen mit dem libyschen Personal rund 15 Geburten pro Tag.
MSF hat ein Team von 20 Psychologen ausgebildet, die das medizinische Personal und die Patienten in vier Spitälern der Stadt psychologisch unterstützen. “Obwohl die Frontlinie sich nun ausserhalb des Stadtzentrums befindet, leben die Menschen unter sehr schwierigen Bedingungen. Sie leiden unter traumatischen Erfahrungen, viele von ihnen haben schwere Kämpfe miterlebt, zudem leben sie im Belagerungszustand. Es ist unmenschlich, dass die Menschen dazu gezwungen sind, solche Umstände zu ertragen”, sagt Renzo Fricke, Notfallkoordinator von MSF in Misrata.
Schulung des libyschen Personals
Chirurgen von MSF führen Schulungen für das libysche Personal durch, dem es an Erfahrung im Bereich Kriegs- und Unfall-Chirurgie mangelt. Darüber hinaus werden Medizinstudenten in Grundlehrgängen auf eine freiwillige Tätigkeit als Pflegefachpersonal vorbereitet, da viele der meist ausländischen Pflegefachleute das Land verlassen haben.
Ausserhalb von Misrata unterstützt MSF medizinische Institutionen nahe der Frontlinie, die erste Hilfe für Verwundete leisten, bevor diese in Spitäler nach Misrata überwiesen werden. Nebst der Schulung des medizinischen Personals in der Stabilisierung Verwundeter liefert MSF auch medizinisches und technisches Material.
MSF-Team aus Sintan evakuiert
In der westlibyschen Stadt Sintan unterstützt ein Team von MSF das Spital bei der Aufnahme der Verletzten. Im letzten Monat wurden hier nach Kämpfen in der Bergregion Nafusa über 120 Patienten aufgenommen. MSF hat ausserdem Schulungen durchgeführt und dem Spital medizinische Geräte und Medikamente zur Verfügung gestellt.
Am 27. Mai sah sich MSF nach mehrmaligem Raketenbeschuss gezwungen, das Team zu evakuieren. Am 4. Juni kehrten zwei Mitarbeiter nach Sintan zurück, um die Situation zu evaluieren und medizinische Aktivitäten abzuschliessen. Die Sicherheitslage ist nach wie vor sehr unsicher, da die Stadt und Umgebung immer wieder beschossen werden. Patienten des Spitals werden momentan in medizinische Einrichtungen in Tunesien oder in die nahe gelegene libysche Stadt Jadu überwiesen.
Psychologische Hilfe und Geburtshilfe in Bengasi
Im früheren Kampfgebiet Bengasi konzentriert sich MSF auf die psychologische Betreuung von Frauen, Kindern und medizinischem Personal, das während der Kämpfe im Einsatz war. Ein Psychologe der Organisation unterstützt libysche Kollegen mit einer medizinischen Schulung, mit dem Ziel, Traumasymptome, wie etwa Depressionen, zu erkennen. Des Weiteren assistiert MSF der zentralen Apotheke bei der Medikamentenbestellung, auch wenn durch die steigende Präsenz internationaler Organisationen mittlerweile weniger Unterstützung nötig ist.
Ausserhalb der Stadt leistet MSF gynäkologische und pränatale Hilfe in drei Einrichtungen zwischen Bengasi und der Stadt Adschdabija.
Hilfe für Flüchtlinge in Tunesien und Italien
Tausende libysche Familien flüchten aus der Region Nafusa Richtung tunesische Grenze. Von Anfang April bis Anfang Juni sind mehr als 60’000 Libyer vor der Gewalt geflohen. Sie suchen Zuflucht entlang der tunesischen Grenze.
MSF hilft den lokalen Gesundheitseinrichtungen, die wachsenden medizinischen Bedürfnisse zu bewältigen. In den Flüchtlingslagern Remada und Dehibat hat MSF mobile Kliniken eingerichtet und bietet den Flüchtlingen medizinische und psychologische Unterstützung an. Die Situation in Dehibat ist wegen der Kämpfe sehr angespannt.
In den Übergangslagern von Ras Adjir, nahe der nördlichen Grenze zwischen Tunesien und Libyen, können nahezu 4’000 Menschen aufgrund der Situation in ihren Herkunftsländern nicht in ihre Heimat zurückkehren. Sie stehen vor einer ungewissen Zukunft. Seit Anfang März betreibt MSF ein psychosoziales Hilfsprogramm in den Lagern, da viele Menschen auf ihrer Flucht aus Libyen Gewalt erlebt und traumatische Erfahrungen gemacht haben.
In Shousha, dem grössten Lager, hat diese Situation zu starken Spannungen geführt. Ende Mai starben während eines Feuers vier Flüchtlinge. Dadurch ausgelöst folgten gewalttätige Demonstrationen gegen die unmenschlichen Lebensbedingungen im Lager. Mindestens zwei Menschen starben, viele weitere wurden verletzt und zwei Drittel des Lagers niedergebrannt. Am Tag nach den Vorfällen verteilte MSF Lebensmittel, Wasser und Hilfsgüter an rund 4’000 Menschen und leistete medizinische und psychologische Hilfe. Auch wenn sich die Situation im Lager wieder stabilisiert hat, herrscht unter den Flüchtlingen Angst und Misstrauen. Viele haben bereits mehrmals versucht, die Grenze zu Libyen zu passieren und riskieren auf der Suche nach einer besseren Zukunft erneut ihr Leben. Seit Ende Mai bietet MSF für die Menschen im Shousha Flüchtlingslager eine medizinische Grundversorgung. Viele gesundheitliche Beschwerden stehen nicht mit der Gewalt in Zusammenhang, sondern sind auf die schlechten Lebensbedingungen im überfüllten Lager zurückzuführen.
Auf der Insel Lampedusa betreut MSF die Aufnahme von Patienten im Hafen und die medizinische Nachsorge in den Auffanglagern der Insel. Von Februar bis Mai hat MSF auf Lampedusa fast 12’000 Menschen unterstützt, die vor dem Konflikt in Libyen geflüchtet sind. Die Organisation betreibt zudem ein psychosoziales Hilfsprogramm in einem Auffanglager in Mineo (Sizilien), wo seit März mehr als 3’500 Migranten verschiedener Nationalitäten aufgenommen wurden. Darüber hinaus hat MSF begonnen, die Lebensbedingungen der Migranten und den Zugang zu Hilfe in Durchgangslagern auf dem italienischen Festland zu evaluieren.