Rettungseinsatz im Mittelmeer: «Bleiben Sie ruhig. Wir bringen Sie alle nach Italien.»
Libyen4 Min.
Der interkulturelle Vermittler Achmad Al Rousan schildert seine Tätigkeit an Bord eines der MSF-Rettungsschiffe.
Auf den Schiffen Bourbon Argos und Dignity I führen wir Rettungseinsätze im Mittelmeer durch. Ein weiteres Team von uns arbeitet mit SOS Mediteranee auf der Aquarius zusammen. Seit Beginn unseres Einsatzes im Jahr 2016 haben wir 1’953 Menschen gerettet und weitere 3’753 von anderen Booten übernommen, um sie zu versorgen. Die in Seenot geratenen Bootsflüchtlinge werden während und nach ihrer Rettung von einem Team speziell geschulter interkultureller Vermittler betreut. Einer von ihnen ist Achmad Al Rousan. Er war in der vergangenen Woche an Bord der Bourbon Argos, als uns Nachrichten von drei Schiffbrüchen auf dem Mittelmeer erreichten. Achmad schildert, was die Crew macht, wenn auf einem der Such- und Rettungsschiffe ein Notruf eingeht.
«Die Nachricht vom ersten Schiffbruch erreichte uns über den Bordfunk der Bourbon Argos. Wir beschlossen, sofort Kurs zu nehmen, um die in Seenot geratenen Menschen zu retten. Doch anhand der Koordinaten, die man uns über Funk geschickt hatte, ermittelten wir, dass wir acht Stunden entfernt waren. Wir mussten einsehen, dass wir nicht rechtzeitig eintreffen würden. Das war niederschmetternd. In diesem Moment wurde uns schmerzlich bewusst, dass das Aufgebot an Marineschiffen in diesem Gebiet, in dem die meisten Menschen Libyen verlassen, für die benötigte Anzahl von Rettungseinsätzen nicht ausreicht. Mir wird übel, wenn ich in den Zeitungen lese, dass Europa beabsichtigt, Schutz suchende Menschen auszusperren; wenn ich lese, wie Zäune in allen möglichen Formen gebaut werden, anstatt den Menschen Hilfe und Zuflucht zu gewähren.
Plötzlich kam ein weiterer Notruf von einem Schiff mit 500 Menschen an Bord, das in Richtung Pantelleria auf Sizilien unterwegs war. Man bat uns um Milch für ein zwei Jahre altes Kind. Die Mutter des Jungen konnte ihm keine Milch mehr geben. Ich fragte mich, wie es ihr auch hätte möglich sein sollen, ausreichend Muttermilch zu bilden – bei der immensen Anspannung während der Überquerung des Meeres und nach allem, was sie wohl schon in Libyen durchgemacht hat.
Heikler Moment während der Rettungsaktion
Wir fuhren sofort in das Such- und Rettungsgebiet. Während der Fahrt rekapitulierte ich die Einsätze, bei denen wir in unserem Festrumpf-Schlauchboot auf in Seenot geratene Boote zusteuerten. Das ist ein extrem heikler Moment während einer Rettungsaktion. Ich arbeite als interkultureller Vermittler und fahre mit dem Ziel los, den gesamten Rettungsvorgang sicher über die Bühne zu bringen. Dazu muss ich mit den Menschen in Seenot in besonderer Weise kommunizieren.
Zuerst muss ich sie beruhigen. Ich erkläre ihnen, dass niemand beabsichtigt, sie in die Hölle zurückzubringen, der sie entkommen sind. Wenn du auf hoher See mit einem überfüllten Gummiboot oder einem morschen Holzschiff konfrontiert bist, ist es entscheidend, schnellstmöglich zu erfassen, in welchem Zustand die Menschen sind.
Es muss alles in grösster Ruhe geschehen. Ich sehe den Menschen in die Augen. Sie erwidern unsere Blicke. Sie stehen aneinandergedrückt im Boot und sind zutiefst verängstigt. Ich rufe immer wieder laut: ‘Bleiben Sie ruhig. Wir bringen Sie alle nach Italien.’ Es ist wichtig, den Bootsinsassen glaubhaft zu machen, dass niemand nach Libyen zurückgebracht wird.
Ruhe bewahren
Während wir uns nähern, versuchen wir herauszufinden, welche Sprachen an Bord gesprochen werden. Wir müssen unbedingt ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, weil das Boot sonst in eine gefährliche Schräglage geraten könnte. Ich wiederhole, dass die Leute Ruhe bewahren und nicht alle zu einer Seite drängen sollen. Das alles geschieht, während wir das Boot in Seenot einmal vollständig umkreisen.
Die Gesichter der Kinder gehen mir nicht aus dem Kopf. Sie sehen dich stumm an und ihre Augen fragen nach Hilfe. Bei unserem letzten Einsatz blickten die Menschen zum Himmel und dankten Gott für unsere Anwesenheit, nachdem wir ihnen gesagt hatten, sie sollen sich keine Sorgen machen. Ich sagte auf Arabisch: «Gott sei Dank, seid ihr in Sicherheit».
Später, an Bord unseres Rettungsschiffes, hielten mich immer wieder Menschen an, um mich zu umarmen. Ich war die erste Person, die freundlich mit ihnen gesprochen hatte. Vielleicht war ich sogar der Erste, der mit ihnen gesprochen hatte, seit sie von den Schmugglern bedroht und gezwungen worden waren, an Bord zu gehen.
Man hat diese Menschen ihrer Würde beraubt
Man hat diese Menschen ihrer Würde beraubt und sie wie Gegenstände behandelt. Sie mussten ausserdem hilflos mit ansehen, wie man ihren Verwandten und Freunden Gewalt antat. Ich habe den Eindruck, dass die Gewalt in Libyen stetig zunimmt: Jede gerettete Person, mit der ich gesprochen habe, berichtete von Gewalt und Tod – während der Durchquerung der Wüste, der Internierung in Libyen und der Meeresüberfahrt.
Wenn ich abends im Bett liege, denke ich oft an die Kinder, die man in diese abgenutzten Gummiboote gesetzt hat. Ich stelle mir vor, wie ich meine Kinder vor der Fahrt zur Schule in ihren Kindersitzen festgurte. Anschliessend denke ich an eine Mutter oder an einen Vater und daran, wie sie an Bord eines dieser Boote gehen. Was sagen sie ihren Kindern? Können sie ihren Kindern das Gefühl geben, während einer Meeresüberfahrt in finsterer Nacht sicher zu sein?»