«Selbst im Krieg gibt es Regeln»
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MSF fordert, dass zur Untersuchung des Luftangriffs in Afghanistan die Internationale Humanitäre Ermittlungskommission eingesetzt wird.Rede von Dr. Joanne Liu, Internationale Präsidentin von MSF .
Am Samstagmorgen kamen zu den zahllosen Menschen, die weltweit in Konfliktgebieten getötet und dann als «Kollateralschaden» oder «unvermeidbare Konsequenz des Krieges» abgetan wurden, auch Patienten und Mitarbeiter von Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF). Im internationalen humanitären Völkerrecht geht es nicht um «Fehler». Es geht um Absichten, Fakten und die Gründe dafür.
Der US-Luftangriff auf das Spital von MSF in Kundus war der tödlichste Luftangriff, den es je auf unsere Organisation gab. Zehntausende Menschen in Kundus haben ausgerechnet jetzt, da sie diese am meisten bräuchten, keinen Zugang zu medizinischer Hilfe mehr. Darum sagen wir heute: Es reicht. Selbst im Krieg gibt es Regeln.
Unsere Patienten in Kundus verbrannten in ihren Betten. Ärzte, Pflegepersonal und andere Mitarbeiter von MSF wurden bei ihrer Arbeit getötet. Unsere Kollegen mussten einander operieren. Einer unserer Ärzte verstarb auf einem improvisierten Operationstisch – einem Bürotisch –, während ein Kollege sich bemühte, ihm das Leben zu retten.
Wir würdigen heute jene, die bei diesem furchtbaren Angriff ihr Leben verloren haben. Und wir zollen jenen Mitarbeitern von MSF Tribut, die zusehen mussten, wie ihre Kollegen starben und ihr Spital in Flammen stand, und sich dennoch unbeirrt um Verletzte kümmerten.
Es handelt sich hier nicht nur um einen Angriff auf unser Spital, sondern um einen Angriff auf die Genfer Konventionen. Diese Konventionen halten die Regeln des Krieges fest und wurden zum Schutz von Zivilpersonen geschaffen – sie schützen Patienten, medizinisches Personal und medizinische Einrichtungen. Sie bringen etwas Menschlichkeit in eine ansonsten unmenschliche Situation.
Die Genfer Konventionen sind mehr als ein abstrakter Rechtsrahmen; für medizinische Teams an der Front machen sie den Unterschied zwischen Leben und Tod aus. Es sind die Genfer Konventionen, die unseren Patienten einen sicheren Zugang zu medizinischen Einrichtungen erlauben und uns ermöglichen, medizinische Hilfe zu leisten, ohne dabei angegriffen zu werden.
Gerade weil Angriffe auf Krankenhäuser in Kriegsgebieten verboten sind, gingen wir davon aus, geschützt zu sein. Doch 10 unserer Patienten, darunter 3 Kinder, und 12 unserer Mitarbeiter starben durch die Luftangriffe.
Die Umstände dieses Angriffs müssen unabhängig und unparteilich untersucht werden, insbesondere wegen der Unstimmigkeit in den Aussagen von US-amerikanischer und afghanischer Seite in den vergangenen Tagen. Wir können uns nicht allein auf interne militärische Untersuchungen durch Einheiten der USA, Afghanistans oder durch die Nato verlassen.
Wir fordern heute die Untersuchung des Angriffs in Kundus durch die Internationale Humanitäre Ermittlungskommission. Diese Kommission wurde im Ersten Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen geschaffen und ist die permanente Instanz, die speziell zur Untersuchung von Verletzungen des humanitären Völkerrechts eingeführt wurde. Wir fordern von den Staaten, die die Erklärung zur Zuständigkeit der Kommission unterzeichnet haben, diese zu aktivieren, um den tatsächlichen Hergang des Angriffs festzustellen und den geschützten Status von Krankenhäusern in Konflikten wiederherzustellen.
Die Internationale Humanitäre Ermittlungskommission existiert seit 1991, wurde bisher jedoch noch nie tätig. Damit dies geschieht, muss einer der 76 Unterzeichnerstaaten eine Ermittlung beantragen. Bislang sind die Regierungen zu zurückhaltend oder zu ängstlich gewesen, einen Präzedenzfall zu schaffen. Doch das Gremium existiert, und es ist Zeit, es zu aktivieren.
Es ist nicht hinnehmbar, dass Staaten sich hinter «Gentlemen’s Agreements» verstecken und so eine regelfreie Zone und ein Umfeld der Straflosigkeit schaffen. Es ist inakzeptabel, dass das Bombardement eines Spitals und die Tötung von Mitarbeitern und Patienten als Kollateralschaden abgetan und als Fehler beiseite gewischt werden.
Heute kämpfen wir für den Respekt der Genfer Konventionen. Als Ärzte setzen wir uns für unsere Patienten ein. Wir brauchen dabei Sie, als Teil der Öffentlichkeit, an unserer Seite, um darauf zu bestehen, dass selbst in Kriegen Regeln gelten.
Rede von Dr. Joanne Liu, Internationale Präsidentin von MSF
7. Oktober 2015, Palais des Nations, Genf, Schweiz