„Sobald die Tür zu ist, nehmen wir uns Zeit für sie und hören ihnen zu“

Henrike Zellmann, Domiz, Irak, 07.10.2013

4 Min.

Die deutsche Psychologin Dr. Henrike Zellmann ist seit August für MSF im Flüchtlingslager Domiz im Nordirak tätig. Sie berichtet, wie die Bedürfnisse im Bereich der psychischen Gesundheit im Lager wachsen und wie das Angebot von MSF damit immer wichtiger wird.

„Im Flüchtlingslager Domiz beobachten wir eine Verschlechterung der Situation in Bezug auf die psychische Gesundheit. Die Menschen sind komplett ernüchtert. Bei ihrer Ankunft hatten sie vielleicht noch Hoffnung, dass diese Situation nicht länger als einige Monate andauern würde. Doch nun realisieren sie, dass die Lage sich nicht bessert, und sie wissen nicht, ob und wann sich das ändern wird.
Die psychische Gesundheit der Flüchtlinge ist sehr fragil. Es gibt viele Auslöser, durch die sich ihre Gemütslage umgehend verschlechtern kann: die Lebensbedingungen im Lager, Erinnerungen an den anhaltenden Konflikt in Syrien und die Ungewissheit, wann der Krieg zu Ende sein wird oder ob sie jemals in ein normales Leben werden zurückkehren können.

Zustand der Ungewissheit

Wenn man in diesem Zustand der Ungewissheit lebt, beeinträchtigt dies das psychische Wohlbefinden enorm. Die Flüchtlinge hier befinden sich ununterbrochen in diesem Zustand. Momentan gibt es nicht viel Hoffnung für sie, denn es gibt keinen Grund zur Annahme, dass sich die Lage in naher Zukunft verbessern wird.
Wir haben hier viele Menschen, die an ernsten psychischen Störungen, zum Beispiel Psychosen, leiden. Da bei der Flüchtlingsbevölkerung das Gefühl von Frustration deutlich zugenommen hat, sind die Beschwerden, die wir behandeln, wesentlich komplexer. Obwohl Kriegstraumata und schwierige Lebensbedingungen nicht die alleinigen Ursachen für psychotische Episoden sind, können sie Auslöser dafür sein.
Vor einigen Wochen kam eine Frau zu uns in die Klinik, die Symptome eines Deliriums zeigte. Sie dachte, sie sei mit elf Kindern schwanger. Wir waren besorgt, da sie drei Kinder hat und wir nicht wussten, wie die Lage für diese zu Hause aussah. Wir besuchten die Familie und stellten fest, dass die Situation unauffällig war und dass die Frau von ihren Nachbarn viel Unterstützung erhielt. Wir werden ihren Fall weiterhin engmaschig überwachen und sie dazu ermutigen, uns für die Beratungen aufzusuchen. Das Stigma rund um die psychische Gesundheit kann hier ein grosses Hindernis darstellen. In diesem Fall war es daher eindrücklich zu sehen, dass sich die Gemeinschaft mit der Frau solidarisch zeigt.

Verlorene Kindheit

Wenn ich die betroffenen Kinder hier sehe, ist es schwierig, sich vorzustellen, was sie durchmachen. Ich habe das Gefühl, dass sie nur Zeit verlieren, dass sie nicht die für ein gesundes Aufwachsen so wichtigen Erfahrungen machen können. Für Kinder gibt es hier nicht viel, was sie machen können: Viele von ihnen können noch immer nicht zur Schule gehen, da es im Lager nicht genügend Angebote gibt. Also verbringen sie ihre Zeit schlicht und einfach damit, im Staub zu spielen. Einige müssen sich eine Arbeit suchen, um ihre Familien zu unterstützen, und 13- oder 14-jährige Jugendliche können ihre Ausbildung nicht fortsetzen.
Bei Sitzungen mit Kindern ist es wichtig, ihnen verständlich zu machen, dass ihre Reaktionen normal sind. Sie befinden sich in einer Ausnahmesituation, und es hilft ihnen zu wissen, dass es vielen ihrer Freunde gleich geht.
Zu den häufigsten Symptomen bei Kindern gehört das Bettnässen. Eltern kann dies zusätzlich belasten, da sie oft nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. In der Beziehung zum Kind kann es zu Spannungen führen, weil sich das Kind vielleicht schämt.

Den Patienten ein offenes Ohr schenken

Ein zehnjähriger Junge wurde uns aus diesem Grund vorgestellt. Er war vor einigen Monaten in den Irak gekommen und wurde im Lager wieder mit seiner Familie vereint. Wir machten ihm klar, dass Bettnässen unter diesen Umständen nichts Ungewöhnliches sei, gaben ihm einige Ratschläge, wie er das Problem überwinden könne, und versicherten ihm, dass es keine grosse Sache sei. Es war so schön, seine erleichterte Reaktion zu sehen und dass er lediglich durch offenes Ansprechen des Themas einen grossen Teil seiner Schamgefühle überwinden konnte.
Die seelischen Wunden sind für viele oft unsichtbar. Unser Team dagegen sieht, wie tief diese Verletzungen sind. Etwas vom wichtigsten ist, dass wir den Patienten ganz einfach Zeit geben, sich mitzuteilen. Patient und Berater arbeiten zusammen, um einen Weg zu finden, mit der Situation umzugehen, Symptome zu lindern und schliesslich die Reaktion wieder besser steuern zu können. Viele wollen ihre Familien nicht mit ihren Problemen belasten, deshalb ist es für sie sehr hilfreich, mit jemandem ausserhalb der Familie in einem vertraulichen Rahmen zu reden.
Manchmal kommen Menschen in einem sehr aufgewühlten und traumatisierten Zustand zu uns in die Klinik. Sie weinen oder stehen unter grossem Stress. Wir können ihnen einen sicheren Rahmen anbieten, wo die Patienten sich aussprechen und an ihrem Verhalten arbeiten können und wo sie merken, dass sie nicht abnormal sind, dass sie nicht verrückt sind. Sobald die Tür zu ist, nehmen wir uns Zeit für sie und hören ihnen zu. Ohne aufdringlich zu sein, begleiten wir die Patienten bei der Heilung. Wenn die Wunden heilen, bedeutet das jedoch nicht, dass auch das Leiden verschwindet. Falls wir den Betroffenen jedoch helfen können, Wege zu finden, mit diesem Leiden umzugehen, dann ist das sehr viel.“