Sudan: "Wie auch immer das kommende Referendum ausgeht – der Zugang zu medizinischer Versorgung in Abyei bleibt höchste Priorität"

Au Sud-Soudan, plus de 75% de la population n’a pas accès aux soins de santé de base. Soudan, 11.11.2010

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Während sich die ganze Welt für die politische Situation des Südsudans interessiert und gespannt den Ausgang des bevorstehenden Referendums über die Unabhängigkeit erwartet, befindet sich das Land in einer humanitären und medizinischen Krise. Über 75 Prozent der Bevölkerung haben keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Bei seiner Rückkehr aus Abyei und Agok schildert Laurent Ligozat, stellvertretender Direktor der Einsätze von MSF, seine Eindrücke.

Weshalb hat sich MSF dazu entschieden, in Abyei und Agok zu intervenieren?
Als wir im April 2006 dort ankamen, wussten wir, dass angesichts der herrschenden Not und der Wahrscheinlichkeit von künftigen Gewaltopfern Bedarf an Hilfe bestand. Nach Zusammenstössen der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee (SPLA) mit der sudanischen Armee, mussten die Einwohner von Abyei im Mai 2008 die Flucht ergreifen. In Anbetracht der Tausenden Vertriebenen zog sich MSF ins weiter südlich gelegene Agok zurück. Dort errichteten wir ein Spital mit 80 Betten, in dessen Operationsabteilung unzählige Kriegsverletzte behandelt wurden. Währenddessen versorgt eine Tagesklinik von MSF die Bevölkerung in Abyei auf ambulanter Basis. Medizinische Teams evaluieren die Bedürfnisse ständig und bei Bedarf könnte die Kapazität noch erhöht werden.

Im Jahr 2010 führten die MSF-Teams dieser zwei Projekte 49’733 ambulante Sprechstunden durch, betreuten über 6’189 schwangere Frauen und behandelten mehr als 2‘723 Kinder gegen Mangelernährung.

Welche Arten von medizinischer Betreuung bieten die MSF-Teams an?

MSF versorgt die Bevölkerung kostenlos mit medizinischer Grundversorgung, da die Gesundheitsdienste in der Region Abyei stark eingeschränkt und unbeständig sind. Das vom Gesundheitsministerium geführte Spital verfügt über nur wenig ausgebildetes medizinisches Personal, und der Vorrat an Medikamenten ist nicht ausreichend. Wie immer in solchen Situationen trifft es Frauen und Kinder am härtesten. Die Rate der Kinder- und Müttersterblichkeit bei den Geburten ist erschreckend hoch.

Dank unserem Einsatz konnte den schwächsten Bevölkerungsgruppen geholfen werden. MSF stellte ausgebildetes Personal, qualitativ hochwertige Medikamente sowie kostenlose Primär- und Sekundärversorgung zur Verfügung. In Abyei und Agok leitet MSF ein Programm für Mutter und Kind und engagiert sich im Bereich Pädiatrie und Allgemeinmedizin. Zudem behandeln wir mangelernährte Kinder unter fünf Jahren.

In der Region Abyei, die zwischen dem Norden und Süden heftig umkämpft wird, ist die Bevölkerung am meisten gefährdet. Unsere Freiwilligen-Teams vor Ort bereiten derzeit Notfallpläne vor, um auf eine grosse Anzahl Verletzte und Vertriebene reagieren zu können. Wie auch immer das kommende Referendum ausgeht – der Zugang zu medizinischer Versorgung in Abyei bleibt höchste Priorität.

Wie beurteilen Sie die humanitäre und medizinische Situation im Südsudan?

Während vieler Jahre schon ist der Südsudan einer humanitären und medizinischen Krise ausgesetzt, die geprägt ist von ungenügendem Zugang zu medizinischer Versorgung, chronischer Mangelernährung, regelmässigen und vermeidbaren Epidemien und einer allgemeinen Unsicherheit – alles Faktoren, welche die Bevölkerung zur Flucht veranlasst haben. Seit vierzig Jahren wird der Südsudan nahezu ununterbrochen von Konflikten beherrscht. Die Leute sterben an Malaria, Atemwegsinfektionen oder auch nur wegen Durchfall – alles Krankheiten, die man gut behandeln könnte, wenn die medizinische Versorgung besser zugänglich wäre.
Deshalb versuchen unsere Teams bestmöglich auf die dringendsten Bedürfnisse der Bevölkerung einzugehen; in Form von Lebensmitteln, Unterkünften oder medizinischer Betreuung. Ein weiterer Anlass zur Besorgnis liefern die Zehntausenden von Südsudanesen, die in den Norden oder in ein Nachbarsland geflüchtet waren und nun hinsichtlich des Referendums zurückkehren. Diese Leute werden Krankheiten ausgesetzt sein, die im Südsudan endemisch sind, wie etwa Malaria, Masern, Meningitis oder Tuberkulose. Die Rückkehr all dieser Menschen zu bewältigen, stellt eine weitere Herausforderung dar. Und dies in einer Region, wo die Ressourcen schon jetzt äusserst knapp sind – seien es Lebensmittel, Trinkwasser oder medizinische Versorgung.
Schliesslich dürfen wir auch die fehlende Sicherheit nicht vergessen, die im Südsudan ein stetiger Begleiter ist. Allein im Jahr 2010 gab es 900 Todesfälle, die auf Gewalt zurückzuführen sind, und 215‘000 Menschen wurden vertrieben.
Wie sieht die Situation in Abyei und Agok aus?
In der Region Abyei herrscht grosse Verunsicherung. Das Volk muss sich im Referendum vom 9. Januar, das soeben auf einen späteren Zeitpunkt verschoben wurde, entscheiden, ob es zu Nord- oder Südsudan gehören will. Jetzt, da der Tag der Entscheidung näher rückt, verschärfen sich die Spannungen zwischen den ethnischen Volksgruppen der Ngok-Dinka und der Misseriya zusehends.

In den vergangenen Wochen hat MSF eine Unterstützungsbasis in Turalei errichtet. Der kleine Ort liegt südlich von Agok und ist in zwei Autostunden zu erreichen. Chirurgisches Material liegt bereit und ein Team ist jederzeit einsatzbereit. Ärzte, Chirurgen und Anästhesisten wurden ebenfalls rekrutiert. Im Falle einer Massenflucht stehen Zelte und Grundnahrungsmittel zur Verfügung sowie eine Ausrüstung für die Reinigung und den Transport von Wasser.

Was sind die Eindrücke der MSF-Teams in diesem Gebiet?

Im Moment ist es ruhig. Unsere Teams beobachten jedoch Lastwagen und Busse, die voll gepackt sind mit Heimkehrern und deren Hab und Gut. Zehntausende von Menschen kehren in ihre Heimatdörfer im Südsudan zurück. Einige von ihnen werden von südsudanesischen Beamten unterstützt, die ihnen bei der Rückkehr und ihrer Ankunft behilflich sind. Viele dieser Heimkehrer wurden in Khartum geboren und waren noch nie zuvor im Südsudan.
Nahezu 10’000 Menschen sind bereits in die Region Abyei zurückgekehrt, aber für die meisten geht die Reise weiter Richtung Süden bis in ihre Heimatdörfer, hauptsächlich in die Staaten Warab und Schamal Bahr al-Ghazal, und sogar bis in die Stadt Dschuba.
Seit im Jahr 2005 das Friedensabkommen unterzeichnet wurde, ist die Einwohnerzahl von Dschuba, das im Fall der Unabhängigkeit zur Hauptstadt werden würde, von 150‘000 auf mindestens 600‘000 hochgeschnellt. Niemand kennt die genauen Zahlen. Die zwei Spitäler der Stadt, denen es an Ausrüstung und qualifiziertem Personal mangelt, können die Bedürfnisse nicht genügend abdecken. Die Lage wird sich noch verschärfen, da die neuen Einwohner von Dschuba, die aus dem Land abwanderten oder aus dem Nordsudan zurückkehren, sehr arm sind. Zurzeit hat diese geschwächte Bevölkerung keinerlei Zugang zu medizinischer Versorgung. MSF erwägt nun die Eröffnung einer neuen Gesundheitseinrichtung.

Wie wird MSF von den verschiedenen Gruppierungen in Abyei wahrgenommen?

Zurzeit sind die Spannungen zwischen den einzelnen Gemeinden so stark, dass wir das Gebiet nördlich von Abyei nicht mehr betreten können, das wir zuvor noch mit unseren mobilen Kliniken von der Stadt aus bedient haben. Unsere ständige Sorge gilt der Grundversorgung aller Gemeinden der Region.

Die Rolle von MSF ist deshalb von grundlegender Bedeutung. Unser zentrales Anliegen ist die Unterstützung und medizinische Versorgung von hilfsbedürftigen Sudanesen sowie die Förderung von humanitären Massnahmen. Es ist unerlässlich, dass wir unsere Unabhängigkeit gegenüber allen Parteien wahren, damit wir weiterhin Zugang zu den ärmsten und schwächsten Zivilbevölkerungen haben, unabhängig von deren Herkunft, Geschlecht oder Religion.

MSF ist seit 1979 im Sudan aktiv und versorgt die Bevölkerung mit medizinischer und humanitärer Nothilfe. Zurzeit leitet MSF 27 Projekte in 13 sudanesischen Staaten. Die von der Organisation bereitgestellten Dienstleistungen und lancierten Programme sind äusserst vielfältig und umfassen die medizinische Primär- und Sekundärversorgung, Notfallintervention, Ernährungshilfe, gesundheitliche Vorsorge, Behandlung der Kala-Azar-Krankheit, Geburtshilfe sowie psychologische, chirurgische und pädiatrische Betreuung.