Von Syrien nach Ein el-Hilweh : Psychologische Betreuung lindert Leid der Flüchtlinge
4 Min.
MSF leistet psychologische Hilfe im Lager Ein el-Hilweh im Libanon. Immer häufiger handelt es sich bei den Patienten um palästinensische Flüchtlinge, die von ihren Erlebnissen in Syrien traumatisiert sind.
„Innerlich bin ich unendlich traurig, doch für meine Familie muss ich stark erscheinen; das ist nicht immer einfach. Bei den Bombardierungen und Schiessereien in Syrien wurden sieben Familienmitglieder von mir getötet. Wir haben ihre verstümmelten Körper gesehen und ich musste sie eigenhändig begraben, wie auch meine Nachbarn. Mein Sohn ist verschwunden und einen Monat später war auch mein Bruder plötzlich verschwunden“, erzählt Mahmud, der vor über einem Monat aus dem palästinensischen Flüchtlingslager Yarmouk in der Nähe von Damaskus geflohen ist. Jetzt hat er in einem anderen Lager im Libanon Zuflucht gefunden, in Ein el-Hilweh nahe der Stadt Saida. Dort lebt er mit seiner Frau und dem sechsjährigen Sohn in einem engen Zimmer, das mit einem Brett geteilt wurde, um noch eine weitere Familie zu beherbergen.
„Solche Geschichten hören wir hier täglich“, erzählt Nissreen Moghamis, die als Sozialarbeiterin für Médecins Sans Frontières / Ärzte ohne Grenzen (MSF) arbeitet. In Saida leistet MSF seit April 2011 in fünf Gesundheitseinrichtungen psychologische Betreuung. Dieses Programm auf Gemeindeebene richtet sich hauptsächlich an die in Ein el-Hilweh lebenden Palästinenser, steht aber auch anderen benachteiligten Bevölkerungsgruppen innerhalb und ausserhalb des Lagers wie auch den Einheimischen offen.
In den vergangenen sechs Monaten sind schätzungsweise 2‘400 zumeist palästinensische, aber auch syrische Familien aus dem Nachbarland angekommen. Das Lager Ein el-Hilweh wurde 1948 ursprünglich für 10‘000 Menschen eingerichtet und ist mittlerweile zum grössten palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon geworden. Derzeit leben dort schätzungsweise 80‘000 Menschen auf engstem Raum zusammen. Die Neuankömmlinge haben Unterschlupf bei anderen Familien gefunden, mieten Räume oder drängen sich in Sammelunterkünften und Zelten innerhalb des Lagerbereichs zusammen. Sowohl die neuen wie die bisherigen Lagerbewohner müssen sich nun an die neuen Lebensbedingungen anpassen, wodurch der Bedarf an psychologischer Betreuung rapide steigt.
Depressionen, Angstzustände, Traumata
Bei den Patienten aus Syrien, die von MSF betreut werden, gehören Depressionen, Angstzustände und posttraumatische Belastungsstörungen zu den häufigsten Beschwerden. Seit Anfang des Jahres registrierte das Team für psychische Gesundheit eine kontinuierliche Zunahme der Anzahl Patienten aus Syrien – meist palästinensische Flüchtlinge, aber auch syrische Staatsangehörige –, und diese Flüchtlinge aus Syrien machen mittlerweile 43 Prozent aller Erstbehandlungen aus.
„Wir haben besonders viele Patienten mit psychischen Traumata: Zahlreiche Menschen waren Zeugen, als Angehörige getötet wurden oder ihre Häuser abbrannten, und einige der Flüchtlinge sind gefoltert worden. Viele Patienten leiden unter Panikattacken, Gedächtnislücken, Alpträumen und Somatisierungen. Hinzu kommt, dass die Lebensbedingungen hier sehr schwierig sind und die Menschen Mühe haben, wenigstens ihre Grundbedürfnisse zu decken“, berichtet Manal Kassem, die als Psychotherapeutin in einer der MSF-Kliniken arbeitet.
Zunehmend häusliche Gewalt
Die engen Wohnverhältnisse führen immer wieder kommt zu Konflikten. „Manchmal teilen sich zehn oder mehr Personen aus verschiedenen Familien einen einzigen Raum mit nur einer öffentlichen Toilette“, erklärt Abu Saleh, ein palästinensischer Flüchtling, der seit 2006 im Lager lebt.
Häusliche Gewalt hat zugenommen, da die Menschen sich nur schwer an ihre neue Umgebung anpassen können. In einigen Familien kommt es zu einem Tausch der herkömmlichen Rollenbilder. „Es sind die Frauen, die aktiv nach Unterstützung suchen und Essen, Milch und Windeln mit nach Hause bringen, während die Männer Mühe haben, eine Arbeit zu finden oder sich schämen, um Hilfe zu bitten. In den meisten Fällen sind die Auslöser der Konflikte in den Familien völlig trivial, aber irgendwann kippt einfach die Stimmung aufgrund der beklemmenden Lebensumstände“, ergänzt Abu Saleh. Oder es kommt zu Spannungen zwischen den Familien, weil die Hilfsgüter von privaten Spendern ungleich verteilt werden.
Das MSF-Programm für psychische Gesundheit
„Manchmal sagen mir die Leute: Gib mir eine Unterkunft und mir geht es psychisch wieder gut“, erzählt der MSF-Sozialarbeiter Mohamed Zeidan. Bei seinen täglichen Hausbesuchen macht er die Menschen auf die psychologische Betreuung aufmerksam und verweist sie bei Bedarf an andere Organisationen, die ihnen auch bei nichtmedizinischen Belangen helfen, sie zum Beispiel finanziell unterstützen. „Wir leisten mindestens psychologische erste Hilfe und Unterstützung“, fügt die Psychotherapeutin Manal Kassem hinzu. Manchmal kann sich eine posttraumatische Belastungsstörung, wenn sie nicht rechtzeitig behandelt wird, zu einer gravierenden psychischen Erkrankung auswachsen. MSF ermöglicht aber auch Flüchtlingen, die wegen des Krieges oder aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten ihre verschriebenen Medikamente nicht mehr einnehmen können, ihre Behandlung weiterzuführen.