Wut, Angst und Verzweiflung: Massive Krise in Haiti
© Jeanty Junior Augustin/MSF
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Abseits der medialen Aufmerksamkeit erlebt Haiti derzeit eine schwere Krise: Der Wert der nationalen Währung und die Kaufkraft der Bevölkerung sinken, die Benzinpreise steigen und die Gewalt nimmt zu. Unsere Teams arbeiten rund um die Uhr, um die vielen Verletzten in dieser schwierigen Lage medizinisch zu versorgen.
Seit ungefähr einem Jahr kommt es in dem Karibikstaat Haiti immer wieder zu grossen und teilweise gewalttätigen Demonstrationen. Damit einhergehend ist die Waffengewalt stark angestiegen. In den ersten drei Monaten des Jahres 2019 haben wir 238 Patientinnen und Patienten mit Schusswunden in einer Notfallambulanz im Martissant-Slum der Hauptstadt Port-au-Prince behandelt – ungefähr doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres.
Anfang Juni haben sich die Spannungen nochmals verschärft. Fast täglich kam es zu Demonstrationen und Gewaltausbrüche in Städten wie Port-au-Prince, Les Cayes und Gonaïves. In nur zwei Wochen wurden 49 Patientinnen und Patienten mit Schusswunden in der Notaufnahme in Martissant aufgenommen. Neun von ihnen waren lebensgefährlich verletzt.
Gewalteskalation gefährdet medizinische Hilfe und Helfer
«Waffengewalt und Strassenkämpfe eskalieren», sagt Lindis Hurum, unsere Projektkoordinatorin in Haiti. «Viele Strassen werden blockiert. Wut, Angst und Verzweiflung sind überall zu spüren. Normalerweise ist Port-au-Prince immer mit Autos verstopft. Jetzt ist alles wie ausgestorben, weil die Menschen fürchten, dass jeden Moment etwas passieren könnte. Niemand fühlt sich mehr sicher. So geht es auch unserem medizinischen Team, das in den vergangenen Tagen schwere Sicherheitsvorfälle erlebt hat.»
Am 23. Juni hat eine Gruppe von 20 bewaffneten Männern an einer Strassensperre einen unserer Krankenwagen angehalten. Unser Team war mit einer Schwangeren auf dem Weg ins Spital. Sie wurden mit vorgehaltener Waffe bedroht und gezwungen, umzukehren. Am selben Tag wurde ein Patient beim Verlassen unserer Notfallambulanz in Martissant erschossen. Es passierte direkt vor dem Haupteingang, wo ein Schild mit der Aufschrift „Keine Waffen” hängt.
Überlastetes Gesundheitswesen
Die zunehmende Gewalt in Haiti beeinflusst sowohl die Arbeit unserer Teams als auch das gesamte Gesundheitssystem. Den öffentlichen Gesundheitseinrichtungen fehlt es an Geld, Ausrüstung und Personal, insbesondere an Ärztinnen und Ärzten. Ohne Hilfe können sie den aktuellen Zustrom an Patientinnen und Patienten nicht bewältigen. Zudem kann sich das medizinische Personal aufgrund der Sicherheitsprobleme nicht frei bewegen, was den Transport von Blutkonserven, Medikamenten und Ausrüstung erschwert.
«Durch die Krise hat sich die unzureichende medizinische Versorgung weiter verschlechtert. Auch die Zahl der Todesfälle dürfte angestiegen sein», sagt Lindis Hurum. «Es fehlen inzwischen grundlegende Dinge wie Sauerstoff und Strom. Zudem kommen immer mehr Menschen zu uns, die kein Geld für die Behandlung in privaten Spitälern haben. Alle Anzeichen einer Krise liegen vor.»
«Es fehlt immer irgendetwas – Personal, Blutkonserven oder Medikamente»
Unser Standort in Martissant ist eine von wenigen Notaufnahmen, die rund um die Uhr geöffnet sind. Wir haben 26 Betten und stabilisieren dort Menschen, die sich in Lebensgefahr befinden, bevor wir sie in Einrichtungen bringen, die grössere chirurgische Kapazitäten haben. «Wir arbeiten Tag und Nacht, um Leben zu retten. Unser Personal steht unter enormem Stress,» sagt Samira Loulidi, Koordinatorin des Zentrums. «Das hier ist kein Spital. Wir sind auf ein funktionierendes Überweisungssystem angewiesen, um Schwerverletzten eine weitergehende medizinische Versorgung zu ermöglichen.»
«Inzwischen müssen wir unser Glück immer mehrmals versuchen und bei zwei, drei Spitälern anfragen, bevor wir eine Lösung für die Patientin oder den Patienten finden. Nicht selten dauert es noch länger. Manchmal klappt es gar nicht. Es fehlt auch immer irgendetwas: Personal, Blutkonserven oder Medikamente. Wie soll man unter diesen Umständen eine ausreichende Gesundheitsversorgung garantieren? Es ist einfach unerträglich!»
In dieser schwierigen Lage tun wir alles, was wir können, um die medizinischen Bedürfnisse der Menschen zu decken. Wir unterstützen sie dabei, die sozialen Spannungen, die Gewalt und den Mangel an medizinischer Versorgung in ihrem Land zu überstehen.
Ärzte ohne Grenzen ist seit dem Jahr 1991 in Haiti tätig. Zurzeit leisten wir umfangreiche fachmedizinische Hilfe u.a. bei der Behandlung von Überlebenden sexueller Gewalt, komplexen chirurgischen Eingriffe und der Versorgung von Unfall- und Gewaltopfern. Unsere Projekte konzentrierten sich vor allem auf die Hauptstadt Port-au-Prince und Port-à-Piment im Südwesten des Landes.
© Jeanty Junior Augustin/MSF