Afghanistan: Die andere Hälfte der Bevölkerung
© Oriane Zerah
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«Die wiederholten Verstösse gegen die Menschenrechte werden wohl leider auch weitreichende soziale und menschliche Kosten verursachen», schreibt Françoise Duroch, Leiterin der Forschungsstelle (UREPH) von Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF).
Ende Dezember wurde verkündet, dass es den Frauen in Afghanistan fortan untersagt ist, für Nichtregierungsorganisationen zu arbeiten. Einige Frauen hätten ihre Tätigkeit nicht mit der von den Taliban vorgeschriebenen Kleidung ausgeführt, so die Begründung. Leider handelt es sich hier um keinen Einzelfall. Im Sahel müssen NGOs bei der Zusammenstellung der Teams Einschränkungen hinsichtlich der Geschlechtermischung hinnehmen. Im Norden Syriens erliessen fundamentalistische Gruppen zwischen Ende 2013 und 2014 Regeln, die Frauen in ihrer Fortbewegung einschränkten. Im Jemen setzte die Huthi-Miliz im April 2022 durch, dass Frauen nur noch mit männlicher Begleitung reisen dürfen. Dadurch sind zahlreiche Jemenitinnen in der Ausübung ihres Berufs eingeschränkt.
Es ist zu befürchten, dass diese Einschränkungen dramatische Auswirkungen auf die Bevölkerung haben werden.
In Afghanistan kennen Hilfsorganisationen die Folgen einer solchen Entscheidung nur zu gut: Gesundheitsversorgung ist für die Frauen selbst wie auch für ihre Kinder praktisch unerreichbar – umso mehr, als die behandelnde und die behandelte Person das gleiche Geschlecht haben müssen. Der zusätzliche Ausschluss der weiblichen Bevölkerung aus Schulen und Universitäten bedeutet, dass das Land auf dringend benötigte medizinische Fachkräfte verzichten muss. Und das, obwohl das Gesundheitssystem bereits am Limit ist.
Einige Organisationen haben ihre Aktivitäten eingestellt – andere arbeiten weiter
Nach der Ankündigung, Frauen die Arbeit für NGOs zu verbieten, haben einige Organisationen entschieden, ihre Aktivitäten einzustellen. Andere, die zum Teil eine Ausnahmeregelung erzielen konnten, wollen hingegen weitermachen. Denn sie möchten weiterhin der Bevölkerung in Not Gesundheitsversorgung anbieten, und vor allem die politische und soziale Isolation der Frauen nicht noch verstärken.
Rechtfertigungen, um den Frauen das Arbeiten zu verbieten, finden sich in der Geschichte immer wieder. Sie schwanken zwischen sozialer Kontrolle und dem angeblichen Schutz ihrer Gesundheit oder Moral. Erreicht werden soll dies mit der Verbannung der Hälfte der Weltbevölkerung in die eigenen vier Wände, wo das männliche Familienoberhaupt das uneingeschränkte Sagen hat. In Frankreich durften Frauen Ende des 19. Jahrhunderts nachts nicht arbeiten. Man wollte sie so einerseits vor körperlicher Gewalt schützen, und andererseits ihre Fortpflanzungsfähigkeit und ihre moralische Integrität bewahren.
2018 belegte ein Bericht der Weltbank, dass in mehr als hundert Ländern Einschränkungen bei der Nachtarbeit oder gewissen Tätigkeiten für Frauen gelten. Die Untersuchung zeigte zudem, dass die rechtliche Diskriminierung beim Zugang zum Arbeitsmarkt aufgrund des Geschlechts Einkommenseinbussen zur Folge hat und das Wirtschaftswachstum eines Landes gefährden.
Ärzte ohne Grenzen arbeiten weiter
Der jüngste Entscheid der Taliban-Regierung hat heftige Reaktionen ausgelöst. Darüber hinaus werden die wiederholten Verstösse gegen die Menschenrechte wohl leider auch weitreichende soziale und menschliche Kosten verursachen. Ärzte ohne Grenzen ist seit mehr als 40 Jahren in dem Land tätig und bietet in acht Provinzen kostenlose Gesundheitsversorgung an. Rund 2500 Mitarbeitende sind für uns im Einsatz, über die Hälfte davon Frauen. Unsere Organisation hat entschieden, ihre Arbeit weiterzuführen – gewisse hatten keine andere Wahl, als ihre Aktivitäten einzustellen. Für die Bevölkerung dürfte dies verheerende Auswirkungen haben. Denn schon jetzt steckt die Wirtschaft in der Krise, das Gesundheitssystem liegt am Boden und der Bedarf an medizinischer Versorgung ist immens, insbesondere was die Behandlung chronischer und ansteckender Krankheiten betrifft. Wie viele Frauen an den Folgen einer schwierigen Hausgeburt sterben, welche Auswirkungen eine verpasste Impfung bei einem Neugeborenen hat oder was eine Unterbrechung der Tuberkulosebehandlung bewirkt, wird nirgends erfasst. Doch genau solche Dramen werden der Preis sein, den die Schwächsten im Land zu zahlen haben.
Die Forschungsstelle für humanitäre Angelegenheiten (UREPH) von Médecins Sans Frontières / Ärzte ohne Grenzen (MSF) Schweiz wurde 2006 gegründet. Ihr Ziel ist es, die Umsetzung von MSF-Projekten in der Praxis zu verbessern und sich an der kritischen Auseinandersetzung mit humanitärer und medizinischer Arbeit zu beteiligen, was vor allem durch Publikationen und die Organisation von Konferenzen und Debatten geschieht.
Françoise Duroch leitet aktuell die Forschungsstelle UREPH.
© Oriane Zerah