Eine verlorene Generation: Unmenschliche Zustände im syrischen Al-Hol-Camp
© Ricardo Garcia Vilanova/MSF
Syrien4 Min.
Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Froontières (MSF) kritisiert die unerträglichen Lebensbedingungen für die Menschen im syrischen Geflüchtetencamp Al-Hol. Die vielen inhaftierten Kinder sind besonders stark Gewalt und Ausbeutung ausgeliefert und haben kaum Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung, wie aus unserem aktuellen Bericht mit dem Titel «Between two fires: danger and desperation in Syria’s Al-Hol camp» hervorgeht. Allein im vergangenen Jahr sind 79 Kinder im Camp ums Leben gekommen.
Das Al-Hol-Camp war einst dazu gedacht, Zivilist:innen, die durch die Konflikte in Syrien und im Irak vertrieben wurden, eine sichere, vorübergehende Unterkunft und Zugang zu humanitärer Hilfe zu bieten. Mittlerweile hat sich Al-Hol jedoch zu einer Art Freiluftgefängnis entwickelt. Gerade für Kinder, die die Mehrheit der Bewohner:innen im Camp ausmachen, sind die Bedingungen untragbar. 35 Prozent der Menschen, die im vergangenen Jahr in Al-Hol starben, waren Kinder unter 16 Jahren. Die häufigste Todesursache (38 Prozent) ist der Tod in Folge von Verbrechen. Zusätzlich zu den insgesamt 85 kriminalitätsbedingten Todesfällen wurden im Jahr 2021 auch 30 Mordversuche gemeldet.
Besonders Kinder sind Gefahren und Gewalt ausgesetzt
Neben den Gefahren in Al-Hol gibt es viele Berichte über Teenager, die im sogenannten «Annex für ausländische Campbewohner:innen» gewaltsam von ihren Müttern oder anderen Bezugspersonen getrennt wurden. Es gibt kaum Informationen darüber, wohin sie gebracht wurden oder was mit ihnen geschehen ist. «Wir haben viele tragische Geschichten aus dem Gefangenencamp Al-Hol in Syrien gehört und gesehen. Dazu gehört der Tod von Kindern, weil der Zugang zu dringender medizinischer Versorgung zu lange hinausgezögert wird. Aber auch die gewaltsame Trennung von Jungen und ihren Müttern erleben wir immer wieder», sagt Martine Flokstra, unsere Projektkoordinatorin für Syrien.
Im Februar 2021 wurde etwa ein siebenjähriger Junge mit Verbrennungen zweiten Grades im Gesicht und an den Armen in unsere Klinik in Al-Hol gebracht. Eine grössere Klinik, in der eine lebensrettende medizinische Versorgung möglich gewesen wäre, war nur eine Autostunde entfernt. Stattdessen dauerte es zwei Tage, bis die Campverwaltung seine Verlegung genehmigte. Auf dem Weg ins Spital starb er. Im Mai desselben Jahres wurde ein fünfjähriger Junge, der von einem Lastwagen angefahren wurde, in dieselbe kleine Klinik eingeliefert. Unser Team vor Ort empfahl, ihn für eine Notoperation in ein anderes Spital zu überweisen. Trotz der Dringlichkeit dauerte es Stunden, bis seine Verlegung genehmigt wurde. Auch er starb auf dem Weg ins Spital, bewusstlos und allein.
Keine Schliessung in Sicht
In Al-Hol werden Menschen systematisch ihrer Rechte beraubt und sind dauerhaft Gewalt und Unsicherheit ausgesetzt. Man geht davon aus, dass die Menschen in Al-Hol und anderen damit verbundenen Gefangenencamps in Syrien aus rund 60 verschiedenen Ländern kommen, darunter aus dem Vereinigten Königreich, aus Australien, China, Spanien, Frankreich, der Schweiz, Tadschikistan, der Türkei, Schweden und Malaysia. Nach einigen Rückführungen und Repatriierungen beläuft sich die Gesamtbevölkerung des Camps derzeit auf etwa 53 000 Personen, von denen etwa 11 000 ausländische Staatsangehörige sind, die in einem abgetrennten Teil des Camps, dem «Annex», untergebracht sind.
«Die Mitglieder der Anti-IS-Koalition sowie andere Länder, deren Staatsangehörige in Al-Hol und anderen Gefängnissen und Camps im Nordosten Syriens festgehalten werden, haben ihre Bürger:innen im Stich gelassen. Sie müssen Verantwortung übernehmen und alternative Lösungen für die im Camp festgehaltenen Menschen finden. Stattdessen haben sie die Rückführung ihrer Bürger:innen verzögert oder einfach verweigert. In einigen Fällen sind sie sogar so weit gegangen, ihnen die Staatsbürgerschaft zu entziehen und sie damit staatenlos zu machen», sagt Flokstra. «Trotz der unsicheren Bedingungen in Al-Hol und den drei Jahren, die vergangen sind, seit mehr als 50 000 Menschen in das Camp gebracht wurden, wurden keine ausreichenden Fortschritte bei der Schliessung des Camps gemacht. Je länger die Menschen in Al-Hol festgehalten werden, desto schlimmer wird es. Eine weitere Generation ist dann der Ausbeutung ausgeliefert und hat keine Aussicht auf eine Kindheit ohne Gewalt.»
Den vollständigen Report finden Sie hier.
Ärzte ohne Grenzen in Syrien
Nach elf Jahren Krieg sind 14,6 Millionen Menschen in Syrien auf humanitäre Hilfe angewiesen. Mit einer Zahl von 6,9 Millionen gibt es im Land die meisten Binnenvertriebenen weltweit – ein Grossteil davon sind Frauen und Kinder. Viele wurden mehrfach vertrieben und leben in prekären Verhältnissen. Ärzte ohne Grenzen leistet in Syrien Hilfe, wo immer es möglich ist. Zugangsbeschränkungen und anhaltende Unsicherheit machen dies jedoch teils sehr schwierig. Die Anträge auf Erlaubnis, in den von der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten zu arbeiten, wurden mehrfach abgelehnt. Im Nordwesten und Nordosten Syriens betreiben und unterstützten wir aber Spitäler und Gesundheitszentren und bietet eine medizinische Versorgung durch mobile Kliniken an.
© Ricardo Garcia Vilanova/MSF