Gazastreifen: Lebensrettende Hilfe kaum noch möglich
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Palästinensische Autonomiegebiete5 Min.
Vor einem Monat erliess der Internationale Gerichtshof (IGH) vorläufige Massnahmen, mit denen er Israel aufforderte, Völkermord zu verhindern und zu bestrafen und sicherzustellen, dass die Menschen im Gazastreifen eine Grundversorgung und Hilfsgüter erhalten. Dennoch bleibt die humanitäre Situation für die Menschen, die vor Ort festsitzen, katastrophal. Nach Angaben der örtlichen Gesundheitsbehörden ist die Zahl der im Gazastreifen getöteten Menschen auf 30 000 gestiegen. Unterdessen gibt es keine Anzeichen dafür, dass die israelischen Streitkräfte versuchen, den Verlust ziviler Leben zu begrenzen oder das Leiden der Menschen zu lindern.
Israels verschärfte Blockade verhindert, dass lebenswichtige Güter in die Enklave gelangen. Auch innerhalb der Enklave ist es nahezu unmöglich, Hilfsgüter bereitzustellen, da Israel den Schutz und die Sicherheit der medizinischen und humanitären Organisationen und ihrer Mitarbeitenden missachtet und die Menschen von lebensrettender Hilfe abschneidet. In der Realität ist humanitäre Hilfe in Gaza somit eine Illusion.
«Der schlicht nicht vorhandene Raum für humanitäre Hilfe und der Mangel an Hilfsgütern in Gaza ist furchtbar», so Lisa Macheiner, Projektkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF). «Wenn die Menschen hier nicht durch Bomben getötet werden, dann leiden sie an Hunger und Durst und sterben wegen fehlender medizinischer Versorgung.»
Medizinisches und humanitäres Personal muss das eigene Leben aufs Spiel setzen
In Gaza gibt es keinen sicheren Ort mehr. Weder für die Zivilbevölkerung noch für jene, die ihr helfen will. Da Israel den Schutz von medizinischen Einrichtungen im Gazastreifen und des humanitären Personals offenkundig komplett ausser Acht lässt, ist die Bereitstellung von Gesundheitsversorgung und lebensrettender Hilfe zu einer fast unmöglichen Aufgabe geworden.
In den vergangenen fünf Monaten wurden Gesundheitseinrichtungen evakuiert und wiederholt angegriffen, belagert und überfallen. Medizinische Mitarbeitende wurden verhaftet, misshandelt und getötet, während sie sich um Patient:innen kümmerten. Darunter fünf unserer Mitarbeitenden. Auch mehrere Familienmitglieder unseres Personals wurden getötet.
In einem der jüngsten rücksichtslosen Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen wurde das Nasser-Spital, das grösste Spital im südlichen Gazastreifen, wochenlang belagert. Nach einem Granateneinschlag in der orthopädischen Abteilung, bei dem mehrere Menschen getötet und verwundet wurden, mussten unsere Mitarbeitenden fliehen und die Patient:innen zurückzulassen. Einer unserer Mitarbeitender wurde an einem Checkpoint von israelischen Streitkräften festgehalten, als er das Gelände verlassen wollte. Wir fordern die israelischen Behörden erneut auf, uns über seinen Aufenthaltsort zu informieren und sein Wohlergehen sicherzustellen.
Das medizinische Personal, das noch im Spital ist, beschreibt entsetzliche Zustände: Die Patient:innen sitzen fest und haben kaum Nahrung, Strom oder fliessendes Wasser.
«Jeden Abend verabschiede ich mich von meinen palästinensischen Kollegen. Jeden Morgen befürchte ich, sie im nächsten Meeting nicht zu sehen», so Macheiner. «Jeden Tag haben wir gefühlt weniger Optionen – um Verletzte zu behandeln, medizinisches Material zu erhalten oder das Wasser zur Verfügung zu stellen, das die Menschen so dringend benötigen.»
Am späten Abend des 20. Februar beschoss ein israelischer Panzer unsere Unterkunft in Al-Mawasi. Dabei wurden zwei Familienmitglieder eines Mitarbeiters getötet und sieben weitere verletzt. Die israelischen Streitkräfte waren über den genauen Standort der Unterkunft informiert. Dies unterstreicht, dass es im Gazastreifen nirgendwo sicher ist und dass die Konfliktentschärfung nicht funktioniert.
Beschränkungen und fehlender Schutz von Hilfskonvois
Ob im Norden oder im Süden, Hilfsorganisationen haben bei der Ausübung ihrer Tätigkeit keinerlei Sicherheitsgarantien. Hilfslieferungen werden blockiert oder an Checkpoints zurückbehalten, so dass Menschen, die dringend Hilfe benötigen, nicht erreicht werden können.
Der Norden des Gazastreifens war monatelang weitgehend von Hilfe abgeschnitten. Die eingeschlossenen Menschen hatten keine andere Wahl, als mit einem Minimum an Nahrung, Wasser und Gesundheitsversorgung auszukommen. Ganze Viertel wurden bombardiert und zerstört. Ärzte ohne Grenzen hat zwar nur einen begrenzten Überblick über die allgemeine humanitäre und gesundheitliche Lage im Norden, doch einige unserer Mitarbeitenden sitzen noch immer dort fest.
«Die Situation im Norden von Gaza ist katastrophal und wird immer noch schlimmer», berichtet eine unserer Pflegefachfrauen, die sich im Norden aufhält.
«In den Spitälern sind nicht einmal grundlegende Behandlungen möglich, in den Apotheken gibt es keine Medikamente mehr. Meine Kinder sind seit Wochen krank wegen des Mangels an sauberem Wasser, und ihr Zustand verschlimmert sich.»
Laut Angaben der UN wurden zwischen dem 1. Januar und 12. Februar die Hälfte aller geplanten Hilfseinsätze in Gebieten nördlich von Wadi Gaza von den israelischen Behörden nicht zugelassen. Jüngst sah sich auch das Welternährungsprogramm gezwungen, die lebenswichtige Hilfe im Norden Gazas einzustellen, mit der Begründung, dass unter diesen Bedingungen keine sicheren Lebensmittelverteilungen möglich seien.
«Die Menschen können nicht noch mehr Leid ertragen.»
Die Behinderung der Hilfslieferungen ist Teil der kompletten und unmenschlichen Belagerung des Gazastreifens durch Israel – und bedeutet für rund zwei Millionen Menschen riesiges Leid. Während vor dem Krieg durchschnittlich zwischen 300 und 500 Lastwagen in das Gebiet einreisten, waren es vom 21. Oktober bis zum 23. Februar nur noch rund 100 pro Tag. Am 17. Februar wurden gerade einmal vier Lastwagen eingelassen.
Langwierige und unvorhersehbare administrative Verfahren für Hilfslieferungen in den Gazastreifen behindern auch die Versorgung von Gesundheitseinrichtungen mit lebensrettenden Gerätschaften und Gütern. Es kann bis zu einem Monat dauern, um Güter nach Gaza zu bringen, da jede Kiste in jedem Lastwagen inspiziert werden muss. Wenn die israelischen Behörden bei der Kontrolle auch nur einen einzigen Gegenstand zurückweisen, geht die gesamte Ladung zurück nach Ägypten. Da es keine offizielle Liste mit nicht zugelassenen Gütern gibt, wurde Ärzte ohne Grenzen wiederholt die Einfuhr von Stromgeneratoren, Wasseraufbereitungsanlagen, Solarzellen und verschiedenen medizinischen Geräten verweigert.
«Mit jeder Sekunde Verspätung, mit jedem Artikel, der irgendwo blockiert ist, wird zusätzliches Leid verursacht», so Macheiner. «Es handelt sich um Güter, die für viele Menschen zwischen Leben und Tod entscheiden.»
In Rafah, im Süden Gazas, leben rund 1.5 Millionen vertriebene Menschen unter entsetzlichen Bedingungen. Es fehlt ihnen an den grundlegendsten Sachen. Frauen müssen Stofffetzen als Damenbinden benutzen. Menschen leben in verschlammten Zelten, ohne Matratzen oder warme Kleider.
«Menschen mit chronischen Krankheiten wie Krebs, Diabetes oder Epilepsie haben kaum Zugang zu Medikamenten und Therapien», sagt Dr. Hossam Altalma, einer unserer Ärzte, der in der Al-Shaboura-Klinik tätig ist. «Die Menschen sind verzweifelt und bereit, jeden Preis für Medikamente zu bezahlen.»
«Die Menschen in Gaza können nicht noch mehr Leid ertragen», fährt Macheiner fort. Sie haben jegliches Sicherheitsgefühl verloren. Da ist einerseits die ständige Bedrohung, in der Nacht bei einem Bombenangriff zu sterben, andererseits wissen sie nicht, wie sie zu ihrer nächsten Mahlzeit oder zu sauberem Wasser kommen sollen.»
Unsere Teams bieten in Gaza weiterhin humanitäre und medizinische Hilfe an; wo immer möglich umfasst diese chirurgische Leistungen, postoperative Versorgung, Mutter-Kind-Versorgung, psychologische Betreuung und Wasserverteilungen. Doch angesichts des immensen Bedarfs ist dies nur ein Tropfen auf den heissen Stein.
Ärzte ohne Grenzen fordert einmal mehr einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand, wirksame Sicherheitsgarantieren für humanitäre Einsatzkräfte und das Ende der Blockaden, damit die Bevölkerung lebenswichtige Hilfe erhält.
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