Haiti: Die Zeit vergeht, aber die medizinischen Bedürfnisse bleiben
3 Min.
Vier Monate nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti passen Teams von MSF weiterhin ihre Aktivitäten an die sich ändernden, aber noch sehr grossen medizinischen Bedürfnisse an. Die Organisation bietet der Bevölkerung an etwa 20 Orten kostenlose medizinische Hilfe, auch mit mehreren mobilen Kliniken.
„Mehr als eine Million Menschen leben immer noch unter schlimmen Bedingungen, in Zelten oder unter Plastikplanen, ohne zu wissen, was in den kommenden Monaten vor ihnen liegt“, sagt Stefano Zannini, Landeskoordinator von MSF in Haiti. „In der Zwischenzeit nimmt der Regen zu und überflutet die Orte, an denen die Erdbebenopfer seit Wochen leben.“
Diese Lebensbedingungen führen zu erhöhten Gesundheitsrisiken. Seit dem 12. Januar hat MSF 137’000 Patienten mit medizinischer Hilfe unterstützt. Heute werden in den medizinischen Basisgesundheitseinrichtungen vor allem Atemwegserkrankungen, Malaria und Durchfallerkrankungen behandelt. Seit Ende März wurden im Choscal-Krankenhaus im Viertel Cité Soleil 71 Menschen mit Verdacht auf Typhus eingeliefert. Die Krankheit entsteht, wenn Menschen schlechten hygienischen Bedingungen ausgesetzt sind.
60 Prozent der medizinischen Einrichtungen beschädigt oder zerstört
In Haiti wurden 60 Prozent der medizinischen Einrichtungen schwer beschädigt oder zerstört. Daher hat MSF das Management für Krankenhäuser übernommen bzw. unterstützt diese wie medizinische Spezialeinrichtungen. „Es gibt Patienten, die bei dem Erdbeben verwundet wurden und orthopädische oder nachbehandelnde operative Eingriffe benötigen. Aber auch der normale alltägliche medizinische Bedarf wie nach Auto- und Haushaltsunfällen rückt wieder ins Blickfeld“, so John Pratt, Arzt am von MSF betriebenen Saint-Louis-Krankenhaus.
Zu den Prioritäten gehört auch die Geburtshilfe. Im April fanden 635 Geburten mit Komplikationen, darunter 131 Kaiserschnitte, im medizinischen Zentrum in Isaie Jeanty in Port-au-Prince statt. In Léogâne führte MSF 514 chirurgische Eingriffe durch, von denen die meisten Geburtshilfe waren.
MSF hat am Saint-Louis Krankenhaus die einzige Spezialabteilung für schwere Verbrennungsopfer in Haiti eingerichtet. Zu der Abteilung gehören drei Zelte und 27 Betten. Die meisten Patienten sind Kinder, die bei Haushaltsunfällen verletzt werden, die in den Notunterkünften passieren, wo oft grosse Familien eng zusammenleben.
Reha und psychologische Hilfe in grossem Umfang
Drei Einrichtungen von MSF sind speziell auf Reha ausgerichtet, darunter Physiotherapie und psychologische Hilfe. Aber auch an anderen Orten, die die Organisation betreut oder unterstützt, wird diese Hilfe ambulant wie stationär angeboten. Während der vergangenen vier Monate haben die Mitarbeiter mehr als 14’600 Patienten in der Nachsorge unterstützt.
Psychologen haben in Lagern und medizinischen Einrichtungen 69’000 Erdbebenopfer unterstützt: „Vier Monate nach dem Erdbeben bewegt sich für viele Haitianer die Erde noch immer und das Geräusch ist permanent da“, sagt Maryvonne Bargues, Psychiater von MSF. „Wir sehen viele Menschen mit akuten Psychosen. Hinter ihrem Lächeln verbirgt sich eine kollektive Depression, die aus dem Leben in Port-au-Prince resultiert, wie es vor dem Erdbeben war. Die Menschen wissen, dass die Unsicherheit ihres Lebens nicht für lange aufgehoben sein wird. Sie sind entmutigt, aber sie geben nicht auf.“
Im April hat MSF in den Einrichtungen in Port-au-Prince 81 Opfern sexueller Gewalt geholfen. Dazu gehört neben der psychologischen Unterstützung die medizinische Hilfe, die unter anderem die Impfung gegen Hepatitis B und eine vorbeugende HIV/Aids-Behandlung umfasst.
Gerüstet für Regenzeit und Hurrikan-Saison
Mit dem Beginn der Regenzeit und der in den Monaten August und September kommenden Hurrikan-Saison verlegt MSF die Aktivitäten nach und nach von Zelteinrichtungen in andere provisorische oder langfristige Strukturen. So wurde beispielsweise in Léogâne im Mai damit begonnen, ein 120-Betten Krankenhaus zu errichten, das aus Containern besteht. Es soll die durch das Erdbeben zerstörte Klinik ersetzen. In Jacmel, wo das Krankenhaus zum grossen Teil zerstört wurde, wurden die Abteilungen Chirurgie, Geburtshilfe, Innere Medizin und die Kinderstation in provisorischen Strukturen untergebracht. MSF unterstützt zudem die intensiven Instandsetzungsarbeiten, die an öffentlichen Gesundheitseinrichtungen vorgenommen werden.
Hunderttausende Menschen sind nach dem Erdbeben in die Umgebung von Port-au-Prince geflohen. MSF hat dort in mehreren Städten, unter anderem in Gonaives, Port-de-Paix, Cap Haitien, Fort-Liberté, Saint-Marc and Les Cayes, Erkundungen durchgeführt. Die Teams konnten keinen speziellen Hilfsbedarf feststellen, der aus den Folgen des Erdbebens resultiert, aber der Zugang zu medizinischer Hilfe bleibt in ländlichen Regionen allgemein sehr eingeschränkt. MSF wird daher nach einer genauen Analyse möglicherweise die Aktivitäten in einige Gebiete ausweiten.
MSF bereitet sich darauf vor, dass der Bedarf an Hilfe durch die Regenzeit und die bevorstehende Hurrikan-Saison in Port-au-Prince wie im ganzen Land möglicherweise zunehmen wird. Dafür wurden zusätzliche logistische und medizinische Güter vorbereitet.