Hilfseinsatz von MSF im Mittelmeer: Fragen und Antworten
Libyen17 Min.
Seit 2015 ist MSF auf dem Mittelmeer im Einsatz: Wir helfen Tausenden Menschen auf der Flucht, die auf See ihr Leben riskieren.
Mit zwei Schiffen retten Teams aus Ärzten, Logistikern und anderen Experten nicht nur Menschen vor dem Ertrinken, sondern leisten schon an Bord erste medizinische Hilfe und verteilen Hilfsgüter. Denn nach schutzloser Fahrt leiden die Menschen oft an Dehydrierung, Unterkühlung und Verätzungen. Im Jahr 2016 haben wir mehr als 30‘000 Menschen in Seenot geholfen.
Warum hat MSF die Hilfsprojekte auf dem Mittelmeer begonnen?
Als humanitäre Organisation kann Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) die Situation auf dem Mittelmeer nicht ignorieren. Nachdem die EU und Italien die grossangelegte Such- und Rettungsmission Mare Nostrum im Jahr 2014 einstellten, hatten wir keine andere Wahl als zu handeln. Seit dem Beginn unseres Einsatzes im Jahr 2015 ist uns klar, dass Rettungsaktionen nicht die Lösung im Umgang mit Menschen auf der Flucht sind. Allerdings ist es im Moment die einzige Möglichkeit, um noch mehr Todesfälle zu verhindern.
Die Menschen, die sich auf die Reise über das Mittelmeer machen, fliehen vor einigen der furchtbarsten humanitären Krisen unserer Zeit. Sie nehmen grosse Risiken auf sich und viele sterben im Meer. Das ist tragisch und völlig inakzeptabel. Die Zahlen der bei ihrer Flucht im Mittelmeer ertrunkenen oder als vermisst gemeldeten Personen sind auf einem historischen Höchststand. 2016 kamen nach offiziellen Zahlen mehr als 5‘000 Menschen um. Jedem Menschen, der sich in Seenot befindet, muss geholfen werden, unabhängig von seiner Herkunft. Auch wenn er einmal gerettet ist, sollte jeder Mensch - unabhängig davon, ob er in Europa bleiben kann oder nicht -, mit Würde und Menschlichkeit behandelt werden.
Wäre das Geld von MSF nicht in den Herkunftsländern der Flüchtenden besser eingesetzt?
MSF arbeitet derzeit in mehr als 60 Ländern weltweit. Darunter sind auch viele Länder, aus denen die Menschen stammen, die über das Mittelmeer fliehen. Genauso sind Länder darunter, in denen die Menschen erste Zuflucht finden, über die sie weiterreisen oder in denen ihre Reise nach Europa endet. Die Einsätze von MSF in diesen Ländern werden fortgeführt. Die Menschen, die über das Mittelmeer fliehen, brauchen ebenso medizinische Hilfe. Sie sind unterwegs, und so muss auch MSF in Bewegung sein, um sie zu erreichen.
Ermutigen Such- und Rettungsaktionen die Menschen nicht dazu, sich auf den Weg zu machen und ihr Leben auf dem Mittelmeer zu riskieren?
Es sind nicht die Rettungsschiffe, die Menschen zur Flucht über das Meer treiben. Es sind Konflikte, extreme Armut und Ungleichheit, die Millionen Menschen dazu bringen, woanders Schutz zu suchen. Über das Mittelmeer fliehen die Menschen seit mehr als einem Jahrzehnt. Die Menschen werden nicht aufhören, das Mittelmeer zu überqueren, weil Europa ihnen den Rücken kehrt. Es ist unmoralisch und grausam, darauf zu spekulieren, dass es die Menschen abschreckt, wenn man Flüchtende ertrinken lässt. Ein Mangel an Rettungsschiffen hält verzweifelte Menschen auf der Suche nach Schutz und Sicherheit nicht ab.
Machen solche Such- und Rettungsaktionen nicht die Arbeit von Schleppern einfacher?
Für verzweifelte Menschen bleiben Schlepper trotz aller Kosten und Gefahren die einzig verbliebene Option. Schleusen ist ein Geschäft, das die Not der Menschen ausnutzt. Es ist nur ein Symptom des Problems, aber nicht die Ursache. Solange das Geschäft funktioniert, wird es auch weiter Schlepperaktivitäten geben, unabhängig von Such- und Rettungsaktionen. Vielmehr profitiert das Geschäft der Schlepper von einer restriktiven Migrationspolitik der EU, die keine legalen Wege nach Europa zulässt.
Antwortet MSF direkt auf Notrufe von Schleppern?
MSF arbeitet in keiner Weise mit Schleppern zusammen und ist ausschliesslich auf dem Mittelmeer aktiv, um Leben zu retten. Sobald wir ein Boot in Seenot entdecken, melden wir es der italienischen Leitstelle zur Koordination der Seenotrettung. Sie ist verantwortlich und entscheidet nach internationalem Recht, welches Schiff am besten positioniert ist, um dem Boot zu helfen. Das können Schiffe der italienischen Küstenwache, der italienischen Marine, Schiffe der EU-Behörde für Grenz- und Küstenschutz (Frontex), European Union Naval Force – Mediterranean (Eunavfor Med) oder Hilfsorganisationen sowie kommerzielle Schiffe sein.
Geben Schlepper den Booten die Telefonnummer von Hilfsorganisationen mit?
MSF ist nicht bekannt, dass Schlepper Menschen auf den Booten die Nummern von Hilfsorganisationen geben. Der Jahresbericht der italienischen Leitstelle zur Koordination der Seenotrettung bestätigt, dass die Anzahl von Booten mit Satellitentelefonen deutlich zurückgegangen ist: von 80 Prozent im Jahr 2015 auf 45 Prozent 2016. 90 Prozent aller Notrufe kamen direkt bei der italienischen Küstenwache an. Während weitere 11,6 Prozent an andere Akteure gingen, kamen nur 0,8 Prozent aller Notrufe bei Hilfsorganisationen an. Konkret bedeutet das, dass im Jahr 2016 von insgesamt 638 Notrufen genau fünf von Hilfsorganisationen angenommen wurden.
MSF selbst hat nie direkte Anrufe von Schleppern oder Menschen auf den Booten bekommen. Die italienische Leitstelle zur Koordination der Seenotrettung eindeutig der Ausgangspunkt für jede Kontaktherstellung.
Es ist jedoch bekannt, dass Mitglieder von Migrantengruppen und Aktivistennetzwerke extra Hotlines für Menschen in Seenot eingerichtet haben, deren Notrufe dann an die italienische Leitstelle weitergeben werden (zum Beispiel „WatchTheMed-Alarmphone“).
Warum beschuldigt Frontex Hilfsorganisationen der Absprache mit Schleppern?
Trotz entsprechender Berichte in den Medien, dass Frontex Hilfsorganisation der „Absprache mit Schleppern“ beschuldigt, hat Frontex selbst diese Vorwürfe gegen Hilfsorganisationen, die Such- und Rettungseinsätze durchführen, nie bestätigt. In einem Treffen von MSF und Frontex-Direktor Fabrice Leggeri hat dieser klargestellt, dass es sich um eine Falschinterpretation seiner Aussage handelt. Ausserdem haben zuletzt sowohl der Leiter der von der EU-Mission „EunavforMed-Sophia“, Enrico Credentino, als auch der Chef der italienischen Finanzpolizei Stefano Screpanti klargestellt, dass es keine Hinweise auf eine Zusammenarbeit zwischen Hilfsorganisationen und Schleppern sowie Behinderungen durch Hilfsorganisationen bei der Anti-Schlepper-Ermittlungen der EU-Mission „EunavforMed-Sophia“ gibt.
In manchen Berichten verweist Frontex auf „unbeabsichtigte Folgen“ der Such- und Rettungseinsätze, bei denen Schlepper die rechtliche Rettungsverpflichtung von anderen Akteuren ausnutzen. In diesem Sinne können Rettungsaktionen auf See von den Schleppern genutzt werden, um für ihre Aktivitäten zu werben. Während wir diese Folge nicht ausschliessen können, glauben wir nicht daran, dass die Präsenz von Hilfsorganisationen entscheidend ist.
Rettet MSF Menschen nahe der libyschen Küste?
Die von MSF betriebenen Rettungsschiffe sind immer in internationalen Gewässern positioniert - meist rund 25 Seemeilen von der libyschen Küste entfernt, denn von dort aus werden die meisten Notrufe abgesetzt. Unsere Teams suchen das Meer mit Ferngläsern nach Booten ab und antworten auf Anfragen der italienischen Leitstelle zur Koordination der Seenotrettung. Laut Internationalem Seerecht müssen alle Rettungseinsätze von einer solchen Leitstelle koordiniert werden. Laut italienischer Gesetzgebung ist das Ignorieren eines Notrufs auf See eine unterlassene Hilfeleistung und kann mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden.
In extremen Notfällen haben sich unsere Schiffe zur Lebensrettung bis zur Grenze der Internationalen Gewässer auf zwölf Seemeilen der libyschen Küste genähert. In nur äusserst besonderen Fällen und ausschliesslich mit Erlaubnis der libyschen Behörden fahren sie noch geringfügig weiter in libysche Gewässer.
Wie viele Menschen sind im Mittelmeer ums Leben gekommen?
2016 sind laut offizieller Zahlen mit mehr als 5‘000 Toten so viele Menschen wie noch nie auf dem Mittelmeer gestorben. Dabei liegt die Zahl noch viel höher, denn niemand weiss, wie viele überfüllte Boote auf ihrem Weg von Libyen nach Italien gesunken sind, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Warum fliehen die Menschen über das Mittelmeer?
MSF unterstützt seit dem Jahr 2002 Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa geflohen sind. Unsere Mitarbeiter sehen schon seit langem die Folgen von Konflikten, Hunger und Krankheiten in Afrika, Asien und dem Mittleren Osten. Die von uns geretteten Menschen beschreiben immer wieder, dass sie keinen anderen Ausweg mehr gesehen haben, als ihr Leben zu riskieren, um nach Europa zu gelangen. Sie fliehen vor Gewalt, Krieg, Verfolgung und Armut in ihren Herkunftsländern. Viele von ihnen haben zudem auf ihrem Weg nach Europa extreme Gewalt und Ausbeutung, etwa in Libyen, erlebt. Fast alle berichten von gewaltsamen Übergriffen wie Schlägen, sexueller Gewalt und Mord. Nach der traumatischen Flucht und den Erlebnissen in Libyen gibt es für die meisten keinen Weg mehr zurück.
Warum sterben immer noch Menschen im Mittelmeer?
Die Schliessung der europäischen Grenzen und das fast vollständige Fehlen sicherer und legaler Wege, Asyl zu beantragen oder nach Europa zu migrieren, zwingt Tausende Menschen, ihr Leben an Bord ungeeigneter Boote zu riskieren. Verstärkter Grenzschutz, erhöhter Millitäreinsatz, Bekämpfung von Schleppernetzwerken – die von der EU angestrengten Massnahmen haben letztendlich dazu geführt, dass noch mehr Menschen im Mittelmeer ertrunken sind. Weiterhin konzentriert man sich auf die Bekämpfung der Auswirkungen und nicht auf die Ursachen. Die Schlepper beispielsweise haben nun einfach ihre Vorgehensweise an die europäischen Massnahmen angepasst, sodass die Überfahrt noch gefährlicher geworden ist.
MSF ist davon überzeugt, dass Menschen ohne sichere Alternativen weiterhin bereit sein werden, sich auf gefährliche Routen zu begeben und ihr Leben zu riskieren. Sie auf See zu retten ist keine Lösung, sondern nur eine Notfallmassnahme, um Menschen vor dem Tod zu bewahren.
Aus welchen Ländern kommen die Flüchtenden in den Booten?
Im Jahr 2016 kamen die meisten Menschen, die an den italienischen Küsten ankamen, aus Subsahara-Afrika. Eritreer waren die zweitgrösste Gruppe unter denjenigen, die sich in Booten die Flucht wagen. Sie erzählen, dass sie aufgrund der fehlenden Freiheit aus ihrem Land geflohen seien, in dem Männer beispielsweise für Jahre oder sogar Jahrzehnte ins Militär eingezogen und Deserteure eingesperrt, gefoltert und getötet würden. Viele der Angekommenen kamen aus Nigeria, Guinea, der Elfenbeinküste und Gambia. Viele weitere kamen aus dem Sudan, Somalia und Bangladesch.
Der Grossteil der Geretteten im Jahr 2016 waren Männer. Allerdings retten wir auch immer mehr unbegleitete Minderjährige und einzelne Kinder. Laut Schätzungen unserer Teams war rund jede zehnte Frau schwanger. Manche der Frauen waren schon in den letzten Wochen ihrer Schwangerschaft und mehrere Babys kamen an Bord unserer Schiffe zur Welt.
Warum kommen auch viele Menschen aus Ländern, in denen kein Krieg herrscht?
Die Gründe dafür, warum Menschen ihr Land verlassen, sind sehr komplex. Allerdings riskiert niemand sein Leben und manchmal auch das Leben seiner Kinder, wenn er für sich eine Bleibeperspektive sieht. Viele der Menschen auf den Booten können nicht schwimmen und besitzen keine Rettungswesten, und sind so in akuter Lebensgefahr.
Wäre es nicht besser für die Menschen, wenn sie in ihrer Region bleiben?
Es ist nicht die Aufgabe von MSF, Aufnahmekriterien für Migranten oder Flüchtlinge zu definieren. Wir möchten aber darauf hinweisen, dass der Grossteil der vertriebenen Menschen auf der Welt im eigenen Land bleibt oder Zuflucht in einem Nachbarland sucht. Nur einem Bruchteil wird Asyl in einem anderen Land gewährt.
Von den zwölf Millionen vertriebenen Syrern beispielsweise sind acht Millionen in andere Teile des Landes geflohen. Vier Millionen leben als Geflüchtete in Nachbarländern. Im Libanon ist inzwischen jeder vierte Bewohner ein syrischer Geflüchteter. Nur eine Million Syrer sind nach Europa gekommen, sie machen damit weniger als 0,2 Prozent der gesamten europäischen Bevölkerung aus.
Was passiert mit den geretteten Menschen bei ihrer Ankunft in Italien?
Nach ihrer Ankunft bekommen die geretteten Menschen direkt am Hafen Erste-Hilfe-Pakete und werden medizinisch versorgt. Danach werden sie in Erstaufnahmezentren gebracht. Die Aufnahme an Land wird von italienischen Behörden in Zusammenarbeit mit Organisationen wie dem Italienischen Roten Kreuz, dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR), der International Organization for Migration (IOM) und Save the Children organisiert. In den eingerichteten Hotspots werden die Fingerabdrücke der Menschen genommen und ihnen wird die Möglichkeit gegeben, einen Asylantrag zu stellen. Danach werden sie entweder in Abschiebezentren oder Aufnahmezentren gebracht. In Italien gibt es drei verschiedene Arten von Aufnahmezentren.
Verfügt MSF neben der medizinischen Expertise auch über solche im Bereich der Such- und Seenotrettungseinsätze?
Uns ist bewusst, dass die Einsätze gefährlich sind. Deswegen legen wir viel Wert darauf, sehr gut ausgebildete Rettungs- und Navigationsteams auf den zwei Schiffen Prudence und Aquarius einzusetzen. Letzteres Schiff betreiben wir in Zusammenarbeit mit der zivilen europäischen Organisation SOS Méditerranée. Zudem haben wir seit Beginn der Einsätze 2015 nochmals an Erfahrung gewonnen.
Die Prudence, die von MSF betrieben wird, kann bis zu 1‘000 Menschen aufnehmen. Es sind 13 unserer Mitarbeiter (u.a. ein Arzt, ein Krankenpfleger und eine Hebamme) sowie 17 weitere Crew-Mitglieder an Bord. Das Schiff ist speziell ausgestattet, um medizinische Hilfe zu leisten und bietet u.a. eine Notaufnahme, einen Beobachtungs- und Behandlungsraum, einen Isolationsraum und einen OP, eine Apotheke und separate Bereiche, um schwere Fälle zu behandeln.
Die MV Aquarius ist 77 Meter lang und hat ein neunköpfiges MSF-Team an Bord, um medizinische Hilfe zu leisten. Das Schiff wird von SOS Méditeranée in Partnerschaft mit MSF betrieben. Es kann bis zu 500 Gerettete aufnehmen.
Warum setzt MSF dieses Jahr weniger Rettungsschiffe ein?
Die Entscheidung, nur noch mit zwei Schiffen aktiv zu sein, resultiert auch daraus, dass MSF seine Ressourcen für die verschiedenen humanitären Krisen in der Welt einteilen muss und sich verstärkt auch für Migranten in Zentralamerika und Mexiko einsetzen wird.
Welche Art von medizinischer Hilfe wird an Bord geleistet?
Während der Such- und Rettungsaktion versorgen die MSF-Teams vor allem Menschen mit Dehydrierungen, Unterkühlungen oder schwere Verätzungen – letztere entstehen durch den Kontakt mit einer Mischung aus Benzin und Meereswasser. Weitere häufige Erkrankungen sind Durchfall, Seekrankheit, Krätze und anderen Hautinfektionen. Wegen der hohen Zahl an schwangeren Frauen ist auch immer eine Hebamme an Bord. Für akute Notfällen haben wir eine Notaufnahme an Bord. Zudem organisieren wir den schnellen Transport von Schwerverletzten in das nächste Krankenhaus.
Zunehmend berichten unsere Teams von Patienten, an deren Körper sie Anzeichen von Folter und Misshandlungen feststellen. Weil viele Traumatisches erlebt haben, kümmern sich unsere Mitarbeitern auch um die psychischen Probleme der Überlebenden. Viele haben Traumatisches erlebt. MSF leistet psychologische Ersthilfe an Bord sowie mit einem mobilen Team an der sizilianischen Küste.
Warum bringt MSF die Menschen nicht zurück nach Libyen?
Die Menschen können nicht nach Libyen zurückgebracht werden, da sie dort nicht sicher sind. Gesetzlich ist ein Rettungsschiff dazu verpflichtet, aus Seenot gerettete Menschen an einen sicheren Ort zu bringen. Es ist die italienische Leitstelle zur Koordination der Seenotrettung, die den sichersten Hafen auswählt, meist einen italienischen.
Die Lage in Libyen ist durch anhaltende Kämpfe und grosse Unsicherheit gekennzeichnet. Es gibt kein funktionierendes Asylsystem, das den Asylsuchenden angemessenen Schutz gewähren kann. Der Grossteil der von uns aus Seenot geretteten Menschen hat Libyen zumindest durchquert und war dort extremer Gewalt oder Ausbeutung ausgesetzt. Viele berichten von Raubüberfällen, Entführungen, Vergewaltigungen oder Erpressungen.
Die EU bietet der libyschen Küstenwache Trainings an, die aber statt auf die Achtung des Internationalem Seerechts oder der Menschenrechte bloss auf ein effizienteres Abfangen der Boote abzielen. Die von der libyschen Küstenwache aufgegriffenen Menschen werden in Haftzentren gebracht, wo sie unter menschenunwürdigen Bedingungen und ohne Rechtsschutz festgehalten werden.
Warum werden die geretteten Menschen nicht nach Tunesien oder Malta gebracht?
MSF entscheidet nicht selbst, an welchem Hafen die Geretteten von Bord gehen. Die in diesem Fall zuständige italienische Leitstelle zur Koordination der Seenotrettung legt fest, welcher der sicherste Hafen ist, an den die Menschen dann gebracht werden.
Tunesien hat bisher noch keine Gesetzgebung in Asylfragen und kann somit nicht in Betracht gezogen werden. Der Vorschlag, Menschen auf dem Meer abzufangen und sie nach Tunesien zu bringen, damit sie dort einen Antrag auf Asyl in Europa stellen, widerspricht dem heutigen Recht. Malta hat die Ergänzungserklärung zu der „Search and Rescue“-Konvention (SAR) und zur „International Convention for the Safety of Life at Sea“ (SOLAS) nicht ratifiziert, in denen die unterzeichnende Regierung unter anderem die Verantwortung übernimmt dafür übernimmt, einen sicheren Ort zur Verfügung zu stellen.
Daher werden italienische Hafen weiterhin offiziell als die sichersten Häfen eingestuft.
Wäre es nicht besser, strenge Grenzkontrollen einzuführen?
Grenzschliessungen und das Fehlen von legalen Optionen haben dazu geführt, dass immer mehr schutzsuchende Menschen sich immer grösseren Gefahren aussetzen. Nie zuvor haben wir so viele Menschen gesehen, die eine Flucht über das Meer versuchen - in unsicheren Booten und unter inakzeptablen Bedingungen. Der einzige Weg, um das zu verhindern, ist das Schaffen von sicheren und legalen Alternativen wie beispielsweise Umsiedlung, humanitäre Visa, Familienzusammenführung, Arbeitserlaubnisse für Saisonarbeiter oder Visa für Studierende.
Was meint MSF mit proaktiven Such- und Rettungsaktionen?
Die EU ist dafür verantwortlich, adäquate und proaktive Massnahmen zur Rettung von Leben im Mittelmeer bereitzustellen. Heute sind Hilfsorganisationen, zusammen mit der italienischen Küstenwache die einzigen, die proaktiv nach Booten in Seenot suchen. (Zwar werden oft auch die Marineschiffe der EU-Mission „EunavforMed-Sophia“ und die Boote der EU-Grenzschutzagentur Frontex von der Seenotrettungszentrale in Rom zur Rettung von Menschen in Seenot angefordert, doch deren eigentlicher Auftrag ist die Schlepperbekämpfung bzw. der Grenzschutz. Die Frontex-Schiffe bleiben, sofern sie nicht aus Rom zu Booten in Seenot beordert werden, in der Regel in der Nähe der europäischen Hoheitsgewässer und navigieren nicht in dem Gebiet, in dem die meisten Boote in Seenot geraten.) Wenn die EU diese Aufgabe übernehmen würde, müssten Hilfsorganisationen nicht eingreifen.
MSF ruft die EU daher zur Gründung eines Such- und Rettungsmechanismus auf, bei dem aktiv nach Booten in Seenot gesucht wird. Zudem sollten die Geretteten nach ihrer Ankunft human behandelt, angemessen untergebracht und medizinisch versorgt werden.
Warum mischt sich MSF in ein Aufgabengebiet der europäischen Politik ein?
MSF ist eine humanitäre Hilfsorganisation und kann als solche die Situation auf dem Mittelmeer nicht ignorieren. Wir fühlen uns den Menschen in Not verpflichtet, die im Mittelmeer zu ertrinken drohen. Natürlich ist uns bewusst, dadurch Teil in einer kontroversen politischen Debatte zu werden. Doch unabhängig von der politischen Meinung, die Menschen zu diesem Thema haben können, gibt es zwingende humanitäre Gründe, aktiv zu werden, um noch mehr Tote zu verhindern.
Was hält MSF von den Aktivitäten von Frontex?
Frontex ist eine Grenzschutzagentur, deren Hauptaufgabe die Überwachung und Bekämpfung von grenzübergreifendem Verbrechen sind. Such- und Rettungsaktivitäten sind nur ein zusätzliches Mandat. (Die Frontex-Schiffe bleiben, sofern sie nicht aus Rom zu Booten in Seenot beordert werden, in der Regel in der Nähe der europäischen Hoheitsgewässer und navigieren nicht in dem Gebiet, in dem die meisten Boote in Seenot geraten.) Die ersten Einsätze von Frontex starteten 2015 nach dem Ende der grossangelegten Such- und Rettungsmission Mare Nostrum zwischen 2013 und 2014. Seit dem Beginn der Einsätze ist weder die Zahl der Toten im Mittelmeer zurückgegangen, noch konnte Frontex grosse Erfolge in der Bekämpfung von Menschenhandel verzeichnen. Es ist schockierend, dass EU-Gelder hauptsächlich in die Abschreckung und Überwachung investiert werden und es keinerlei Auftrag für Such- und Rettungsaktionen gibt.
Durch das Fehlen eines engagierten und ausschliesslich darauf zielenden Such- und Rettungsmechanismus der EU sterben Menschen auf dem Mittelmeer. Durch die Wahl der EU, in Überwachungs- statt von Rettungsmassnahmen zu investieren, sterben Menschen auf dem Mittelmeer.
Arbeitet MSF mit Frontex zusammen, um gegen Schlepper vorzugehen?
Es ist nicht die Aufgabe von MSF, internationale Gewässer zu überwachen oder gegen Schleppernetzwerke vorzugehen. Wir sind keine Polizei, sondern Ärzte, die nur auf dem Mittelmeer sind, um Leben zu retten.
MSF versteht, dass die europäischen Regierungen das Recht haben, die Grenzen zu überwachen. Das einseitige Vorgehen gegen Schlepper durch die EU löst allerdings keine grundlegenden Problematiken, wie den Mangel an sicheren und legalen Alternativen zur gefährlichen Flucht über das Meer. Ein „Krieg gegen Schlepper“ riskiert eine Militarisierung der Situation und kann humanitäre Such- und Rettungseinsätze gefährden.
Kommen mit den Booten auch Terroristen nach Europa?
Im aktuellen Kontext versteht MSF die Ängste in Europa. Doch Asylsuchende und Geflüchtete sind auf der Suche nach Hilfe und Schutz und keine Terroristen. Die Menschen auf den Booten als potenzielle Terroristen zu stigmatisieren, sagt mehr über die Ängste in Europa aus, als über die Realität der Menschen. Sie sind gezwungen zu fliehen und suchen in Europa Schutz und eine neue Lebensgrundlage.
April 2017