Interview mit Ivan Gayton, Notfall-Koordinator von MSF in Ras Ajdir an der tunesisch-libyschen Grenze
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“Unser oberstes Ziel ist der sofortige Zugang zu Verletzten in den von Gewalt betroffenen Gebieten innerhalb Libyens.”
Angesichts der gewalttätigen Auseinandersetzungen in Libyen Mitte Februar hat MSF die Stadt Bengasi im Osten Libyens erreichen können. Dort unterstützt das Team bestehende medizinische Einrichtungen und versucht, in die von Gewalt betroffenen Gebiete zu gelangen, um Verletzte zu behandeln. Ein weiteres Team von MSF ist in Ras Ajdir, an der westlichen Grenze zu Tunesien stationiert, um von da aus mit medizinischem Material nach Libyen zu gelangen. Während einerseits dem Team die Grenzüberquerung verweigert wird, dürfen anderseits die Verletzten laut Berichten das Land nicht verlassen. Oberstes Ziel von MSF ist es, raschmöglichst Zugang zu diesen Menschen zu erhalten. Unterdessen flüchten Tausende Personen, mehrheitlich ausländische Staatsangehörige, aus dem Land und warten auf die Rückführung in ihre Heimat. An der tunesisch-libyschen Grenze hat MSF zudem einen erhöhten Bedarf an psychologischer Betreuung festgestellt.
Ivan Gayton, Notfall-Koordinator von MSF beschreibt die Situation an der Grenze und wie MSF vor Ort Hilfe leistet.
Haben Sie Informationen über die humanitäre Situation auf der libyschen Seite?
Viele Menschen, welche die Grenze überquert haben, erzählten uns, dass verletzte Personen Libyen nicht verlassen dürften. Aus Kontakten zu medizinischem Personal innerhalb Libyens wissen wir, dass es an Material und Medikamenten mangelt, um die Verletzten zu versorgen. Am häufigsten ist von Traumata die Rede. Wir befinden uns in einer zutiefst besorgniserregenden Lage, wo Verletzte auf der einen und medizinisches Personal und Versorgungsgüter auf der anderen Seite blockiert sind.
Unsere oberste medizinisch-humanitäre Priorität ist es, zu diesen Bevölkerungsgruppen in den von Gewalt betroffenen Gebieten innerhalb Libyens zu gelangen. Die MSF-Teams an der tunesischen Grenze und im Osten Libyens sind dabei, sämtliche Möglichkeiten zu prüfen, um die betroffenen Menschen in Libyen zu erreichen.
Es gab Berichte über eine humanitäre Krise an der tunesisch-libyschen Grenze. Können Sie das bestätigen?
Obwohl sich die Menschen auf der Flucht aus Libyen in einer schwierigen Situation befinden, können wir zurzeit nicht von einer humanitären Krise in dem Sinne reden. Dies dank dem bewundernswerten Einsatz der Zivilbevölkerung und den Behörden in Tunesien, die unermüdlich Hilfe leisten.
Durch den massiven Zustrom von Menschen geraten die Durchgangslager allerdings zunehmend unter Druck, und die Situation ist sehr fragil. Hält dieser Zustrom weiter an, werden die Durchgangslager bald an die Grenzen ihrer Kapazität stossen. Bis zum 3. März hatten 91'000 Menschen, mehrheitlich Arbeitsmigranten aus Ägypten oder Tunesien, aber auch aus anderen afrikanischen Ländern oder aus Asien, die Grenze überquert. Dabei handelt es sich hauptsächlich um gesunde Männer, bei denen die medizinischen Teams in der Regel keine ernsthaften gesundheitlichen Probleme feststellten.
Es wurden grosse Anstrengungen unternommen, damit die Rückführungen von Menschen in ihre Heimatländer mit dem Zustrom von weiteren Flüchtlingen aus Libyen Schritt hielten. Tunesien hat mit bemerkenswerter Grosszügigkeit auf den massiven Zustrom an Personen reagiert. Wir haben Hunderte von Tunesiern gesehen, die private Spenden wie Nahrung, Wasser, Decken oder Brennholz brachten.
Was macht MSF an der Grenze genau?
In erster Linie signalisieren wir mit unserer Präsenz an medizinischem Personal und Versorgungsgütern, dass wir sofort aktiv werden können, sobald die Grenzüberquerung nach Libyen möglich ist. Wir suchen nach Wegen zu den Verletzten, die Berichten zufolge das Land nicht verlassen dürfen, während Ärzte und lebenswichtige medizinische Güter draussen bleiben müssen.
Zweitens überwachen wir die Situation an der Grenze genau, falls eine medizinisch-humanitäre Intervention nötig werden sollte. Aus Erfahrung wissen wir, dass man stets auf jedes mögliche Szenario vorbereitet sein muss, auch wenn die Situation zurzeit unter Kontrolle ist.
Drittens unterstützen wir die laufenden Massnahmen der Akteure vor Ort, der Zivilbevölkerung, sowie Anstrengungen von Regierungs- oder Nichtregierungsseite her.
In welcher Form erfolgt diese Unterstützung konkret?
Unser medizinisches Team hat ärztliche Behandlungen aufgenommen. Dies in Zusammenarbeit mit den tunesischen Gesundheitseinrichtungen sowie dem Roten Halbmond, die soweit gut mit der Situation vor Ort zurecht kommen. Bis zum jetzigen Zeitpunkt konnten wir bei den Menschen, welche die Grenze bereits überquert haben, keine schweren Erkrankungen feststellen. Die meisten leiden unter Erkältungen, Kopf- und Bauchschmerzen. Wir überwachen die Lage kontinuierlich, auch wenn im Moment alles unter Kontrolle ist.
Inzwischen haben wir im Gespräch mit den durchreisenden Migranten und mit anderen humanitären Akteuren vor Ort einen dringenden Bedarf an psychologischer Unterstützung festgestellt. Viele der Menschen auf der Flucht waren in Libyen Zeugen von Gewalt oder haben diese am eigenen Leib erfahren. Sie warten nun auf die Rückkehr in ihre Heimatländer. Ihre unmittelbare Zukunft ist ungewiss, was an sich schon ein erheblicher Stressfaktor ist. Aus diesem Grund haben wir ein Programm für mentale Gesundheit eingeführt. Wir bieten psychologische Beratungen an für Patienten, die von den Ärzten an der Grenze an uns verwiesen werden.
Das MSF-Team wird zudem durch weiteres medizinisches Personal und Versorgungsgüter verstärkt und ist jederzeit bereit, den verletzten Menschen in Libyen zu helfen.