Irak: «Selbst nach anderthalb Jahren war die Wunde nicht verheilt» – Antibiotika-Resistenzen weiten sich aus
© Candida Lobes/MSF
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Mehr als ein Jahr ist seit der militärischen Offensive auf Mossul vergangen. Unzählige Menschen wurden während des Kriegs verletzt, viele mussten mehrmals operiert werden. Inzwischen sind bei den Patienten die Antibiotikaresistenzen in besorgniserregendem Ausmass angestiegen – wir beobachten dies seit der Eröffnung unserer postoperativen Einrichtung in Ost-Mossul im April 2018. Mehr als ein Drittel der dortigen Patientinnen und Patienten ist betroffen und leidet unter den schwerwiegenden Konsequenzen.
Ursache dieser Antibiotikaresistenzen ist unter anderem die freie Verfügbarkeit von Antibiotika. Wir klären daher mit speziellen Gesundheitsberatungs-Teams die Bevölkerung auf und treffen notwendige Massnahmen. So müssen Menschen mit einer multiresistenten Infektion beispielsweise isoliert werden. Doch nur, wenn sie verstehen, warum dies notwendig ist, werden sie die belastende Behandlung akzeptieren. Wir helfen ihnen mit psychologischer Unterstützung durch diese Zeit.
«Es gab einen Luftangriff, dann ist unser Haus über uns eingestürzt. Ich war verletzt – am Bein, am Rücken und im Gesicht. Jemand rettete mich aus dem Chaos und brachte mich ins Spital», erzählt Nahla Saleh , eine unserer Patientinnen in Ost-Mossul. An das furchtbare Ereignis, bei dem fast alle ihre Kinder umkamen, schloss sich noch eine zweite Leidensgeschichte an. Denn einige Verletzungen bereiteten ihr noch lange nach der Entlassung aus dem Spital Probleme. Sie suchte unsere postoperative Einrichtung in Ost-Mossul auf. «Die Ärzte sagten mir, dass ich weitere Operationen und andere Medikamente für den Heilungsprozess brauche». Es stellte sich heraus, dass die Erreger gegen die gängigen Antibiotika resistent geworden waren.
Es hat mir den Knöchel zertrümmert. Und selbst nach anderthalb Jahren war die Wunde noch nicht verheilt.
Die grösste Herausforderung des Jahrhunderts für das Gesundheitswesen
Wenn eine Person eine bakterielle Infektion hat, wird diese im Allgemeinen mit Antibiotika behandelt – die einzig verfügbaren Medikamente, die gegen Bakterien wirksam sind. Doch die Bakterien passen sich an die Medikamente an. Nahlas Geschichte ist kein Einzelfall. Fast 40 Prozent der Patienten, die in unsere Einrichtung in Ost-Mossul eingewiesen werden, haben eine multiresistente Infektion. Antibiotikaresistenzen sind im ganzen Irak verbreitet. Und auch in vielen anderen Ländern, in denen wir arbeiten, werden sie ein zunehmendes Problem.
Gründe für Antibiotikaresistenzen sind häufig die falsche Einnahme und eine Überdosierung. «Antibiotikaresistenz war nicht immer ein Problem in unserem Land», erklärt Karam Yaseen, unser Gesundheitsberater in Ost-Mossul. «Vor fünfzehn Jahren war die Einnahme von Antibiotika eher gut reguliert, und wir hatten ein gutes medizinisches System. Aber der Krieg 2003 änderte alles. Heute kann ein Apotheker im Irak ohne Rezept Antibiotika verkaufen, sogar solche, die injiziert werden müssen.» Karam warnt, dass sich Antibiotika-Resistenzen zu einer der grössten Herausforderungen dieses Jahrhunderts im Gesundheitswesen des Irak ausweiten könnten, wenn man sich dem Problem nicht annehme.
«Patienten in Isolation haben oft grössere Angst und häufiger Depressionen»
Um die Ausbreitung von Resistenzen einzugrenzen, wurden mit Eröffnung unserer Einrichtung in Ost-Mossul auch Infektionspräventions- und Kontrollmassnahmen eingeführt. Eine elementare Massnahme ist Kontaktschutz, also die Isolierung der Patienten. «Ich bin jetzt seit einigen Tagen in diesem Isolationsraum, ich muss hier wegen der Bakterien bleiben. Ich weiss, die Isolierstation ist zu meinem eigenen Besten und zum Wohl aller», beschreibt Nahla ihre Situation. Zur physischen Abschottung kommen Hygiene- und andere Vorsichtsmassnahmen hinzu: Die Benutzung von Schutzkleidung, die regelmässige Desinfektion der Zimmer und das Einschränken der Bewegungsfreiheit der Patienten.
Dank der Aufklärungsarbeit verstehen die Menschen, dass Antibiotika nicht immer die magische Lösung für alle Probleme sind. Das ist wichtig, wenn wir landesweit etwas verändern wollen.
Die Wahrscheinlichkeit psychischer Probleme, die mit ihren Erlebnissen oder der Behandlung zusammenhängen, ist für viele Patienten hoch. Wer allein ist, hat viel Zeit nachzudenken. Zudem werden mit der Isolation häufig Stigmata gefährlicher Krankheiten assoziiert. Wir helfen mit psychologischer Unterstützung, die an das Alter und das Bildungsniveau unserer Patienten angepasst ist. Zudem organisieren Gesundheitsberater von MSF Sitzungen für Patienten und ihre Verwandten. «Das ist sehr wichtig, weil es die Informationen über Antibiotika in die Häuser der Menschen bringt», erklärt Karam Yaseen. «Sie verstehen, dass Antibiotika nicht immer die magische Lösung aller Probleme sind. Genau das brauchen wir, wenn wir landesweit etwas verändern wollen. »
Unsere Patientin Nahla Saleh, die so schlimmes Leid durchleben musste, versucht heute, positiv in die Zukunft zu schauen: «Man hat mir gesagt, dass ich das Spital in einer Woche verlassen kann. Ich freue mich darauf, in mein Leben und zu meiner Familie zurückkehren zu können. Hoffentlich wird es besser werden mit Mossul, und auch mit dem Irak. Das ist mein Traum für die Zukunft.»
Mit mehr als 1500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern leistet MSF im Irak primäre und sekundäre Gesundheitsversorgung. Wir operieren Kriegsverletzte und kümmern uns um Reha-Massnahmen, behandeln chronische Krankheiten und unterstützen Frauen bei der Geburtsvor- und -nachsorge. Zudem helfen wir psychologisch und mit Gesundheitsaufklärung.
Studien bestätigen, dass Antibiotikaresistenzen im Mittleren Osten, der Irak eingeschlossen, alarmierend hoch sind. Auch in anderen Projektländern kämpfen unsere Teams mit Antibiotikaresistenzen. Wir empfehlen Experten, die unnötige Benutzung und Verschreibung von Antibiotika zu vermeiden. Darüber hinaus legen wir dem irakischen Gesundheitsministerium nahe, alle nötigen Schritte einzuleiten, um die Bevölkerung des Irak für die weitreichenden Folgen von Über- oder Fehldosierung von Antibiotika zu sensibilisieren.
© Candida Lobes/MSF