5 Jahre nach der Schlacht um Mossul: Von Resilienz und Hoffnung

Die grösste Brücke in Mossul. Sie verbindet den Osten mit dem Westen der Stadt.

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Fünf Jahre ist es her, seit am 10. Juli 2017 die Militäroffensive zur Rückeroberung von Mossul vom sog. Islamischen Staat (IS) offiziell als «beendet» erklärt wurde. Für die Menschen in Mossul hat das Leben in der Zwischenzeit langsam wieder begonnen – aber der Wiederaufbau der Stadt dauert an. Auch das Gesundheitssystem erholt sich nur schleppend. Trotz der täglichen Herausforderungen sind bei der Bevölkerung Mut und Hoffnung deutlich spürbar.

2016 erlebte Mossul, die zweitgrösste Stadt Iraks, einen der blutigsten Stadtkriege seit dem Zweiten Weltkrieg. Fünf Jahre nach dem offiziellen Ende der Schlacht nimmt das Leben in der Stadt allmählich wieder an Fahrt auf. «In den vergangenen fünf Jahren haben in Mossul radikale Veränderungen stattgefunden», sagt Sahir Dawood, Gesundheitspromotor für Ärzte ohne Grenzen in Mossul. «Als ich gleich nach der Schlacht zum ersten Mal zurückkehrte, fühlte es sich wie eine Geisterstadt an. Egal, wohin ich blickte, nichts als Trümmer, zerstörte Gebäude und leere Strassen. Nur vereinzelt waren Menschen – sichtlich gezeichnet – zu sehen. Doch jetzt ist das Leben zurückgekehrt, die Leute sind am Arbeiten oder sonst unterwegs. Es stehen wieder Gebäude und in den Strassen brennen nachts die Lichter.» 

Wiedereröffnete Brücken statt Checkpoints

Auch Brücken, die während des Kriegs zerstört wurden, konnten wiedereröffnet werden – der Westen und Osten Mossuls sind damit wieder verbunden. Auch Barrieren und Checkpoints sind in den vergangenen fünf Jahren allmählich entfernt worden, was ein Zeichen für die zunehmende Besserung der Sicherheitslage ist. Eltern müssen sich nicht mehr fürchten, wenn ihre Kinder draussen spielen und können sie wieder zur Schule schicken. 

Fast im Tagesrhythmus entstehen in Mossul neue Initiativen: Leute, die freiwillig den Schutt aus der Altstadt räumen, die Häuser instand setzen oder die Strassen säubern. Influencer und Social-Media-Aktivist:innen aus der Stadt organisieren Spendenaktionen, um Familien beim Wiederaufbau ihres Hauses oder bei der Gründung eines Unternehmens zu unterstützen. Vor ein paar Tagen zirkulierte auf den sozialen Netzwerken das Bild eines Kindes, das jeden Abend die neu gepflanzten Bäume in seiner Strasse giesst. Die Bäume selbst waren von einer Gruppe von Freiwilligen gepflanzt worden. Dies ist nur ein Beispiel für tausende Aktionen, die von den Bürger:innen Mossuls umgesetzt werden. 

Diese Anstrengungen haben Anerkennung verdient, denn diese Menschen arbeiten unermüdlich, ohne dabei einen persönlichen Nutzen daraus zu ziehen.

Hanan Arif, Mitarbeitende im al-Wahda-Spital

«Ihnen geht es einzig darum, ihre Stadt wiederaufzubauen und ihren Mitmenschen einen Dienst zu erweisen», sagt Hanan Arif, Mitarbeitende im al-Wahda-Spital.

Obschon die Bevölkerung Mossuls positive Veränderungen feststellt, ist ihr Alltag noch immer von vielen Herausforderungen geprägt. Viele Familien haben im Krieg alles verloren und kommen nur knapp über die Runden; viele haben noch keine geeignete Unterkunft. Einige müssen wieder ganz unten anfangen. Die weitflächige Zerstörung machte auch vor Wohnhäusern nicht Halt, deren Zahl stark dezimiert wurde. Als die Bewohner:innen langsam zurückkehrten, hatten einige mittellose Familien keine andere Wahl, als in beschädigten Häusern zu leben. Andere mussten trotz finanzieller Engpässe eine andere Unterkunft mieten. 

Menschen sterben auf dem Weg ins Spital

Mossul verfügte einst über das zweitgrösste Gesundheitssystem Iraks, doch es ist noch weit vom Zustand von vor dem Krieg entfernt. Weil Gesundheitseinrichtungen während des Kriegs schwer beschädigt wurden, ist gute medizinische Versorgung für viele noch immer nur schwer verfügbar. Auch Einrichtungen ausserhalb Mossuls wurden nicht verschont, so dass die Menschen oftmals weite Strecken zurücklegen müssen, um in der Stadt an medizinische Versorgung zu gelangen. 

Sulav Al-Hamza, Supervisorin unserer Entbindungsstation am Nablus-Spital in West-Mossul.

Sulav Al-Hamza, Supervisorin unserer Entbindungsstation am Nablus-Spital in West-Mossul.

© MSF/Florence Dozol

«Die Frauen kommen von weit weg, um in unserem Spital zu gebären», berichtet Sulav Al-Hamza, Supervisorin der MSF-Entbindungsstation am Nablus-Spital in West-Mossul. «Sie müssten diese Leistungen eigentlich auch in den Einrichtungen in ihrer Nähe erhalten, aber das ist nicht der Fall. Noch jetzt sterben Menschen auf dem Weg ins Spital, die nur einen kleinen Eingriff wie eine Bluttransfusion benötigen. Dinge, die überall verfügbar sein sollten.» 

«Ich bin Mutter von drei Kindern und muss deshalb häufig medizinische Einrichtungen aufsuchen», sagt Jihan Ahmed*. Sie ist Tante eines in der Nacht zuvor per Kaiserschnitt geborenen Babys und betreut dieses im Nablus-Spital. «Wir haben Mühe, an gute und zugleich erschwingliche Gesundheitsversorgung zu kommen, deshalb kamen wir den weiten Weg von Ost-Mossul hierher in den Westen.» Die grössten Spitäler haben ihren Betrieb in temporären Einrichtungen und Wohnwagen aufgenommen, doch das sind nur kurzfristige Lösungen. Einige sind weit von ihrem ursprünglichen Standort entfernt, so dass sie für die Menschen nicht mehr so schnell erreichbar sind wie vorher. 

Entbindungen statt Kriegschirurgie

Während und unmittelbar nach den Kämpfen versorgten unsere Teams Kriegsverletzte auf der Notaufnahme und im OP-Saal am Nablus-Spital. Mit der veränderten Situation haben sich auch die Bedürfnisse und entsprechend unsere Tätigkeiten geändert. «Der Bedarf ist noch immer riesig», betont Esther van der Woerdt, unsere Einsatzleiterin im Irak. «Unsere drei Einrichtungen in der Stadt empfangen weiterhin zahlreiche Patient:innen für Entbindungen, für pädiatrische, chirurgische und Notfallversorgung.» In den ersten sechs Monaten des Jahren kamen auf den zwei MSF-Entbindungsstationen insgesamt 3853 Kinder zur Welt und im al-Wahda-Spital wurden 489 chirurgische Eingriffe vorgenommen.

Faris Jassim wurde während der Kämpfe verletzt. Es kam zu mehreren Komplikationen und er musste 25 Operationen über sich ergehen lassen, doch er ist noch immer nicht ganz gesund. «Nach meiner Verletzung ging ich durch eine sehr schwierige Zeit», sagt er. «Ich hatte zwei Jahre lang Selbstmordgedanken wegen all der Operationen und Behandlungen, die mir endlos schienen. Erst als mein Bein zu heilen begann, schöpfte ich wieder Hoffnung. Es ist ein riesiger Unterschied zwischen dem Vorwärtskommen im Rollstuhl und selbständigen Gehen wie jetzt.» Faris wird schon bald aus dem von Ärzte ohne Grenzen betriebenen al-Wahda-Spital in Ost-Mossul entlassen und kann es kaum erwarten, wieder in seinem Geschäft zu arbeiten. 

Während des Kriegs lebten die Menschen in ständiger Angst. Sie fürchteten um ihr Leben und darum, ihr Zuhause oder Familienangehörige zu verlieren. Als Mutter musste Hanan Arif ihren Kindern gegenüber Stärke zeigen und Zuversicht ausstrahlen. Schliesslich mussten sie ihr Haus wegen der Gewalt in West-Mossul verlassen. 

Wir flohen zu Fuss über die Brücke nach Ost-Mossul. In der Mitte der Brücke hielt ich an und blickte zurück in den Westen. Der Anblick, der sich mir bot, brach mir das Herz. Man sah nichts als Rauch und Zerstörung. Wir mussten zusehen, wie unsere geliebte Stadt vor unseren Augen starb.

Hanan Arif, Mitarbeitende im al-Wahda-Spital
Hanan Arif, MSF-Mitarbeiterin im al-Wahda-Spital.

Hanan Arif, MSF-Mitarbeiterin im al-Wahda-Spital.

© MSF/Florence Dozol

Psychologische Hilfe für die Trauma-Bewältigung

Ärzte ohne Grenzen bietet heute auch einen geschützten Raum an, in dem sich Patient:innen untereinander austauschen und von ihren traumatischen Erlebnissen erzählen können. In psychologischen Einzel- oder Gruppenberatungen können die Menschen ihren aufgestauten Gefühlen freien Lauf lassen und mit der Hilfe von Expert:innen Bewältigungsstrategien erarbeiten. Doch wie an vielen anderen Orten auch kann es schwierig sein, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, da dies häufig sogar innerhalb der Familie ein Tabu ist. 

Die Menschen in Mossul haben schon viele Schwierigkeiten gemeistert und dabei immer viel Mut, Geduld und Stärke bewiesen. «Es gibt allmählich Fortschritte», sagt Gesundheitspromotor Dawood. «Nach allem, was Mossul durchgemacht hat, ist es aber nicht einfach. Ich glaube, so etwas hat keine andere Stadt erlebt. Es gibt kein Wundermittel, um schnell alles in Ordnung zu bringen.» 

«Es ist schön zu sehen, dass es eine positive Entwicklung gibt», sagt van der Woerdt. «Ich hoffe, dass der Wiederaufbau der Stadt und des Gesundheitssystems noch etwas an Tempo zulegen kann.» 

Es ist noch ein weiter Weg, bis sich Mossul und seine Bewohner:innen wieder vollständig erholt haben. Dazu braucht es Unterstützung – jetzt, und auch noch in den kommenden Jahren.

Esther van der Woerdt, MSF-Einsatzleiterin im Irak

*Name geändert