Jemen: Wird Al-Hudaida eine belagerte Stadt werden?
© Agnes Varraine-Leca/MSF
Jemen4 Min.
«Unsere Sorge ist, dass Al-Hudaida durch die Kämpfe zu einer belagerten Stadt wird.»
Am Mittwoch, den 13. Juni, haben Anhänger des jemenitischen Präsidenten Hadi, unterstützt von der Koalition unter der Führung Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate (SELC), offiziell eine Offensive gestartet, um die Stadt al-Hudaida von der Ansar Allah (Huthi-Rebellen) zu befreien. Noch immer befinden sich 600'000 Menschen in der Stadt. Der Grossteil der jemenitischen Importe gelangt über den Hafen von al-Hudaida am Roten Meer ins Land, was die Route über die Stadt für die Menschen im nördlichen Jemen zu einer wichtigen Lebensader macht. Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) erhöht derzeit die medizinischen Kapazitäten in der Region.
Caroline Seguin, Programmverantwortliche von MSF, liefert eine Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse.
Wie sieht die aktuelle Lage in al-Hudaida aus?
«Die von der SELC unterstützten Streitkräfte befinden sich derzeit am Flughafen von al-Hudaida, einige Kilometer südlich des Stadtzentrums, und bekämpfen die Truppen von Ansar Allah. Eine genaue Einschätzung der Lage ist schwierig, da bislang noch keine MSF-Mitarbeiter im Zentrum von al-Hudaida angelangt sind. Angehörige des medizinischen Personals, mit denen wir zusammenarbeiten, haben jedoch über Luftangriffe und Granateinschläge in der Stadt berichtet, und die Menschen beginnen, Nahrungsmittel und Kraftstoff zu horten.
Die Truppen von Ansar Allah waren in al-Hudaida sehr aktiv. Sie haben Gräben ausgehoben und Barrikaden errichtet und vor zivilen Bereichen wie Wohngebieten, Spitälern und Hotels Wachen aufgestellt, was sehr beunruhigend ist. Die Wasserversorgung von al-Hudaida wurde durch das Ausheben der Schützengräben beschädigt, und die Einwohner berichten von Wasserknappheit. Die Stromversorgung ist schon vor Jahren zusammengebrochen, und die Menschen benutzen Generatoren, sofern sie sich solche leisten können.
Es ist schwierig abzuschätzen, wie viele Menschen bereits aus der Stadt geflüchtet sind. Innerhalb von al-Hudaida wurden Bevölkerungsbewegungen von Süden nach Norden beobachtet. Einige der vertriebenen Familien sind in die benachbarten Gouvernements Ibb und Dhamar und in die Hauptstadt Sanaa geflohen, wo sie Häuser gemietet haben oder bei Verwandten untergekommen sind. Der durchschnittliche Kraftstoffpreis hat sich seit Kriegsbeginn im März 2015 mehr als verdoppelt, so dass die Flucht für eine Familie sehr teuer sein kann.»
Wie hilft MSF den Menschen in der Region?
«Die MSF-Teams unterstützen die Spitäler bei der Versorgung der Verletzten in den Städten al-Hudaida und Mokka sowie im Distrikt Far al-Hudain; sie beliefern die Spitäler mit medizinischem Material und schulen das Personal. In al-Hudaida hat MSF das Spital al-Thawra – das Referenzspital für 80 Prozent der Einwohner des Gouvernements – mit medizinischen Geräten ausgestattet. Ausserdem werden wir in der Nähe von Mokka, 180 Kilometer südlich von al-Hudaida, ein Feldspital aufbauen. Unsere Gewährsleute berichten, dass im Spital von Mokka täglich zwischen 30 bis 60 Verletzte eingeliefert werden. Sechzig Prozent davon sind Notfälle.
Im Spital von Aden weiter im Süden kümmern sich unsere Teams um die eingelieferten Verletzten von der Front in al-Hudaida und Taizz. Sie erweitern die Kapazität des Spitals gerade mit zusätzlichen Zelten von 80 auf 110 Betten, um mehr Patienten versorgen zu können. Seit dem Ausbruch der Kämpfe im Mai ist das Spital voll ausgelastet und behandelte bisher über 150 Patienten, die aus Gebieten in der Nähe der Front eingeliefert wurden. 15 Prozent der Patienten sind Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren. 80 Prozent der Patienten weisen Verletzungen von Gewehrschüssen, Granaten, Bomben und Landminen auf. Der Transport nach Aden, den die meisten Patienten in kritischem Zustand überstehen müssen, dauert mindestens sechs Stunden. Am 23. Juni wurden nach Bombardierungen der Stadt Hays etwa 130 Kilometer südlich von al-Hudaida verletzte Zivilisten eingeliefert. Sie wurden in Hays gegen 11 Uhr in ein Fahrzeug geladen, kamen aber erst um 18 Uhr in Aden an.»
Wie wird sich die Lage weiterentwickeln?
«Eine unserer grössten Sorgen ist, dass al-Hudaida durch die Kämpfe im Stadtzentrum zu einer belagerten Stadt wird, in der die Zivilbevölkerung eingeschlossen ist. Die Gräben und Barrikaden sowie die anhaltenden Kämpfe machen es für Zivilisten immer gefährlicher, sich auf den Strassen zu bewegen, und nicht einmal Ambulanzen sind sicher. Uns wurden auch Fälle gemeldet, bei denen Personen durch Landminen verletzt wurden, aber nicht durch eine Ambulanz erreicht werden konnten. MSF ist besorgt, dass diese Menschen, die schon seit über drei Jahren unter dem Krieg leiden, nun auch keinen Zugang mehr zu einer Notfall- oder Entbindungsstation oder zu kinderärztlichen Diensten haben.
Ausserdem kommen die meisten Importe des Jemen, so auch humanitäre Hilfsgüter, über den Hafen von al-Hudaida. Der Zugang zum Meer ist für die jemenitische Bevölkerung im Norden des Landes, aber auch für humanitäre Hilfslieferungen enorm wichtig. Der Hafen befindet sich zwar derzeit in Betrieb, aber wenn er durch Kämpfe geschlossen oder beschädigt werden sollte, könnte dies grosse Auswirkungen auf die humanitären Operationen und auch auf die Preise für lebensnotwendige Güter wie Nahrungsmittel und Kraftstoff haben.»
© Agnes Varraine-Leca/MSF